Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
abgeschoben.
Seine Noten waren katastrophal, dafür hatte Linus gesorgt, aber da sein Vater früher mit dem Leiter des Balliol-College auf die Jagd gegangen war, wurde schließlich für Linus ein Platz in Oxford gefunden. Das einzig positive Ergebnis seines Studiums war die Entdeckung der Fotografie. Ein einfühlsamer junger Englischlehrer hatte ihn seine Kamera benutzen lassen und ihn anschließend beim Kauf einer eigenen Kamera beraten.
Im Alter von dreiundzwanzig Jahren war Linus nach Blackhurst zurückgekehrt. Wie groß sein Püppchen geworden war! Erst dreizehn und so hochgewachsen. Das längste rote Haar, das er je gesehen hatte. Anfangs war er ihr gegenüber ganz schüchtern: Sie hatte sich sehr verändert, und er musste sie neu kennenlernen. Aber eines Tages, als er in der Nähe der Bucht Fotos machte, hatte er sie in seinem Sucher entdeckt. Sie saß oben auf dem schwarzen Felsen, das Gesicht dem Meer zugewandt. Die Meeresbrise wehte durch ihr Haar, sie hatte die Arme um die Knie geschlungen, und ihre Beine waren nackt.
Linus stockte der Atem. Er blinzelte und beobachtete, wie sie langsam den Kopf drehte und in seine Richtung schaute. Während andere Menschen, die fotografiert wurden, das Wissen um die Tatsache, dass sie beobachtet wurden, nicht aus ihrem Blick verbannen konnten, war Georgiana vollkommen unbefangen. Sie schien durch die Kamera hindurch direkt in seine Augen zu sehen. In ihrem Blick lag dasselbe Mitgefühl wie damals vor all den Jahren, als er so geweint hatte. Ohne nachzudenken, drückte er auf den Auslöser. Ihr Gesicht, dieses perfekte Gesicht, und nur er würde es mit der Kamera einfangen.
Vorsichtig nahm Linus das Foto aus seiner Manteltasche. Er berührte es ganz behutsam, denn es war mittlerweile alt, die Ränder brüchig. Die Sonne war zwar schon fast untergegangen, aber wenn er das Foto im richtigen Winkel hielt …
Wie oft hatte er schon so dagesessen und es gedankenversunken betrachtet, nachdem sie verschwunden war? Es war der einzige Abzug, den er besaß, denn nachdem Georgiana fort war, hatte sich jemand - seine Mutter? Adeline? Oder einer ihrer Lakaien? - in seine Dunkelkammer geschlichen und die Negative entfernt. Es gab nur dieses eine Foto, und es war auch nur deshalb noch erhalten, weil Linus es immer bei sich trug.
Aber jetzt gab es diese zweite Chance, und die würde er sich nicht entgehen lassen. Er war kein Kind mehr, sondern der Herr von Blackhurst. Mutter und Vater lagen längst in ihren Gräbern. Nur seine Ehefrau, diese lästige Person, und ihre kränkelnde Tochter waren noch da, und von denen würde er sich keine Steine in den Weg legen lassen. Er hatte Adeline nur den Hof gemacht, um seine Eltern für Georgianas Flucht zu bestrafen, und die Verlobung war für die Eltern ein so brutaler, tödlicher Schlag gewesen, dass die ständige Unterbringung dieser Frau in seinem Haus ihm als ein vergleichsweise geringer Preis erschienen war. Und so war es gewesen. Sie ließ sich leicht ignorieren. Er war der Hausherr, und was er wollte, würde er bekommen.
Eliza. Sehnsüchtig flüsterte er ihren Namen und ließ ihn langsam verklingen. Seine Lippen zitterten so sehr, dass er sie fest zusammenpressen musste.
Er würde ihr ein Geschenk machen. Ein Geburtstagsgeschenk. Etwas, das ihm ihre Dankbarkeit sichern würde. Etwas, von dem er wusste, dass es ihr gefallen würde, und wie sollte es anders sein, wo es doch ihrer Mutter vor langer Zeit so sehr gefallen hatte?
32 Cliff Cottage Cornwall, 2005
Als Cassandra durch das Tor trat, war sie einmal mehr überwältigt von der seltsamen, schweren Stille, die über dem Haus und dem Garten lag. Und sie nahm noch etwas anderes wahr, etwas, das sie deutlich spürte, aber nicht benennen konnte. Ein merkwürdiges Gefühl von Verschwörung. Als würde sie sich, indem sie das Tor durchschritt, auf einen geheimen Pakt einlassen, dessen Regeln ihr unbekannt waren.
Diesmal war es früher am Tag als bei ihrem letzten Besuch, und der Garten war von Sonnenlicht gesprenkelt. Da der Gärtner erst in einer Viertelstunde eintreffen würde, steckte Cassandra den Schlüssel wieder in die Tasche und beschloss, sich ein bisschen umzusehen.
Ein schmaler Steinpfad, der fast gänzlich von Flechten überwuchert war, wand sich durch den Garten und führte seitlich ums Haus herum. Das Gestrüpp neben dem Haus war so dicht, dass sie sich erst den Weg freikämpfen musste.
Etwas hier erinnerte sie an Nells Garten in Brisbane. Weniger die Pflanzen als die
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