Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
einmal erzählt, dass es an der Küste entlang eine Abkürzung vom Dorf zum Landgut gab.
Der Weg war steil und das Gras hoch, aber Eliza schritt beherzt aus. Nur einmal blieb sie stehen, um auf das glatte, granitfarbene Meer hinauszuschauen, auf dem eine Flotte kleiner, weißer Fischkutter sich dem sicheren Hafen näherte. Eliza lächelte, als sie die Boote sah, sie erinnerten sie an junge Spatzen, die eilig ins warme Nest zurückkehrten, nachdem sie den ganzen Tag lang die große, weite Welt erkundet hatten.
Eines Tages würde sie dieses Meer überqueren, bis ans andere Ende der Welt würde sie fahren, genau wie ihr Vater. Hinter dem Horizont warteten so viele Welten. Afrika, Indien, der Nahe Osten, die Antipoden. Und an diesen fernen Orten würde sie lauter neue Geschichten und uralte Märchen entdecken.
Davies hatte ihr vorgeschlagen, ihre Märchen und Geschichten aufzuschreiben, und das hatte sie getan. Zwölf Notizhefte hatte sie schon gefüllt und konnte nicht aufhören. Im Gegenteil, je mehr sie schrieb, desto lauter schwirrten die Geschichten ihr im Kopf herum und drängten darauf, freigelassen zu werden. Sie wusste nicht, ob sie etwas taugten, und eigentlich war ihr das auch egal. Sie gehörten ihr, und indem sie sie niederschrieb, wurden sie wirklich. Figuren, die in ihrem Kopf herumgespukt waren, wurden deutlicher, wenn sie sie zu Papier brachte. Sie bekamen Charakterzüge, die Eliza ihnen gar nicht gegeben hatte,
sagten Dinge, von denen sie gar nicht wusste, dass sie sie dachten, benahmen sich unvorhersehbar.
Ihre Märchen hatten ein kleines, aber aufmerksames Publikum. Jeden Abend nach dem Essen kroch Eliza genau wie früher, als sie noch klein gewesen waren, zu Rose ins Bett und erzählte ihrer Cousine ihr neuestes Märchen. Rose lauschte mit großen Augen, stöhnte und seufzte immer an den richtigen Stellen und lachte schadenfroh, wenn etwas Gruseliges passierte.
Es war Rose gewesen, die Eliza dazu überredet hatte, eine ihrer Geschichten nach London an die Zeitschrift Children’s Storytime zu schicken.
»Wäre es nicht großartig, wenn sie sie druckten? Dann wären es echte Geschichten, und du wärst eine richtige Schriftstellerin.«
»Es sind auch jetzt schon echte Geschichten.«
Rose hatte eine verschwörerische Miene aufgesetzt. »Aber wenn sie veröffentlicht würden, hättest du ein kleines Einkommen.«
Ein eigenes Einkommen. Das war ein Thema, das Eliza brennend interessierte, und Rose wusste es genau. Bisher war Eliza völlig abhängig von der Großzügigkeit ihres Onkels und ihrer Tante, und sie zerbrach sich schon seit einer ganzen Weile den Kopf darüber, wie sie die Reisen und Abenteuer finanzieren sollte, die die Zukunft zweifellos für sie bereithielt.
»Und es würde Mama gewiss nicht gefallen«, sagte Rose, stützte das Kinn in die Hände und biss sich auf die Lippe, um ein Grinsen zu unterdrücken. »Eine Mountrachet, die sich ihren Lebensunterhalt mit Arbeit verdient!«
Tante Adelines Meinung hatte Eliza noch nie etwas bedeutet, aber die Vorstellung, dass andere Menschen ihre Geschichten lesen würden … Seit sie das Märchenbuch in der Pfandleihe der Swindells entdeckt hatte und in seine vergilbten Seiten eingetaucht war, kannte Eliza die Macht von Märchen. Ihre magische Fähigkeit, die Wunden der Menschen zu heilen.
Das Nieseln ging allmählich in leichten Regen über, und Eliza
begann zu laufen, das Notizbuch an die Brust gedrückt, während das hohe Gras ihr den Rocksaum durchnässte. Was würde Rose sagen, wenn Eliza ihr erzählte, dass die Kinderzeitschrift ihr Märchen Der goldene Käfig abdrucken würde und dass man sie sogar um weitere Geschichten gebeten hatte? Im Laufen lächelte Eliza vor sich hin.
Nur noch zwei Wochen bis zu Roses Rückkehr, Eliza konnte es kaum erwarten. Wie ihre Cousine ihr fehlte! Was das Schreiben anging, war Rose ziemlich nachlässig. Sie hatte während der Überfahrt nach Amerika einen Brief geschrieben, aber danach war nichts mehr gekommen, und Eliza wartete ungeduldig auf Neuigkeiten aus der großen Stadt. Sie hätte sie so gern mit eigenen Augen gesehen, aber Tante Adeline hatte sich klipp und klar ausgedrückt.
»Wenn du deine eigenen Zukunftsaussichten zunichtemachen willst, bitte sehr«, hatte sie eines Abends gesagt, als Rose schon zu Bett gegangen war. »Aber ich lasse nicht zu, dass du Roses Zukunft mit deinem unzivilisierten Benehmen ruinierst. Sie wird nie den ihr vom Schicksal bestimmten Mann finden, wenn sie keine
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