Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
wurde, ging Eliza schon früh in den geheimen Garten. Die Novembersonne war noch nicht vollständig erwacht, und es war noch dämmrig, gerade hell genug, dass man das vom Tau silbrige Gras erkennen konnte. Sie ging schnell, die Arme gegen die Kälte vor der Brust gekreuzt. Es hatte in der Nacht geregnet, und die Wege waren voll tiefer Pfützen, die sie mied, so gut es ging. Sie öffnete das quietschende Tor zum Labyrinth und schlüpfte hindurch. Zwischen den hohen Hecken war es noch dunkler, aber Eliza hätte sich selbst im Schlaf noch in dem Labyrinth zurechtgefunden. Normalerweise liebte sie die Stunde des Zwielichts, wenn die Nacht der Dämmerung wich, aber diesmal war sie zu sehr in Gedanken vertieft, um darauf zu achten. Seit Rose ihr in ihrem letzten Brief von ihrer Verlobung berichtet hatte, kämpfte Eliza mit ihren Gefühlen. Ein Stachel der Eifersucht saß in ihrem Inneren und ließ sie keine Ruhe mehr finden. Jeden Tag, wenn sie an Rose dachte, wenn sie den Brief wieder und wieder las und sich die Zukunft ausmalte, kam die Angst und erfüllte sie mit ihrem Gift.
Denn mit Roses Brief hatte Elizas Welt eine andere Farbe angenommen. Wie in dem Kaleidoskop im Kinderzimmer, das sie einst so entzückt hatte, hatten all die bunten Splitter sich mit einer einzigen Drehung zu einem völlig neuen Bild zusammengesetzt. Hatte sie sich eine Woche zuvor noch ganz sicher gefühlt, eingebettet in die Gewissheit, dass sie und Rose unzertrennlich waren, fürchtete sie jetzt, wieder ganz allein zu sein.
Als sie den Garten erreichte, sickerte das erste Licht durch das herbstlich dünne Laubdach. Eliza holte tief Luft. Sie war in den Garten gekommen, weil sie sich hier beruhigen konnte, und an diesem Tag hoffte sie mehr denn je, dass er diesen Zauber auf sie ausüben würde.
Sie wischte mit der Hand über die kleine, noch regennasse Gartenbank und setzte sich auf die Kante. Der Apfelbaum hing voll mit glänzenden, orangeroten Früchten. Sie könnte ein paar Äpfel für die Köchin pflücken, vielleicht auch Unkraut jäten oder die Wicken hochbinden. Sich mit irgendetwas beschäftigen, das sie von Roses Ankunft ablenken, ihr die nagende Angst nehmen könnte, dass Rose bei ihrer Rückkehr nicht mehr dieselbe sein würde.
Denn seit Roses Brief angekommen war und Eliza mit ihrer Eifersucht gerungen hatte, war ihr bewusst geworden, dass es nicht der Mann war, Nathaniel Walker, den sie fürchtete, nein, es war Roses Liebe zu ihm. Dass Rose heiraten würde, konnte sie ertragen, aber nicht die Vorstellung, dass Rose ihre Liebe von nun an Nathaniel schenken würde. Elizas größte Angst war, dass Rose, die sie immer geliebt hatte, einen Ersatz für sie gefunden hatte und keine Cousine mehr brauchte.
Sie zwang sich, durch den Garten zu schlendern und ihre Pflanzen zu begutachten. Die Glyzinie warf ihre Blätter ab, der Jasmin war verblüht, aber der Herbst war mild, und die rosafarbenen Rosen standen noch immer in voller Blüte. Eliza trat näher, nahm eine halb geöffnete Rose zwischen die Finger und betrachtete lächelnd den Regentropfen, der zwischen den Blütenblättern hängen geblieben war.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie musste einen Strauß pflücken, ein Willkommensgeschenk für Rose. Ihre Cousine liebte Blumen, aber vor allem würde Eliza Blumen aussuchen, die ihre Freundschaft symbolisierten. Die eichblättrige Geranie für Freundschaft, rosafarbene Rosen für Glück, Vergissmeinnicht für gemeinsame Erinnerungen …
Eliza wählte jede Blume mit großer Sorgfalt aus, achtete darauf, nur solche zu pflücken, die einen tadellosen Stängel und eine perfekte Blüte besaßen, dann band sie den kleinen Strauß mit einem rosafarbenen Seidenfaden zusammen, den sie aus ihrem Rocksaum gezogen hatte. Sie war gerade dabei, den Strauß noch einmal zurechtzuzupfen, als sie das vertraute Geräusch von metallbeschlagenen Rädern auf dem mit Steinen gepflasterten Weg zum Haus hörte.
Sie waren wieder da. Rose war nach Hause zurückgekehrt.
Das Herz im Hals klopfend, raffte Eliza mit der freien Hand ihre am Saum feuchten Röcke und rannte los. Lief im Zickzack durch das Labyrinth, trat in ihrer Hast in Pfützen, während ihr Puls im Rhythmus mit den Pferdehufen hämmerte.
Sie kam gerade rechtzeitig durch das Tor, um die Kutsche auf dem Wendekreis vor dem Haus anhalten zu sehen. Einen Moment lang blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen. Onkel Linus saß wie immer auf der Gartenbank neben dem Tor zum Labyrinth, neben sich die
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