Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Obwohl die Märchen für Kinder geschrieben waren, einfache Erzählungen von Tapferkeit und Tugend, hatten sie ihn nicht mehr losgelassen. Die Figuren hatten sich in seine Gedanken geschlichen, waren dort zum Leben erwacht, und ihre einfache Weisheit war Balsam für seine gequälte Seele, für seine hässlichen Erwachsenensorgen. Unwillkürlich hatte er angefangen, Linien zu zeichnen, aus denen wie von selbst ein altes Weiblein an einem Spinnrad geworden war, eine Feenkönigin mit langem, dickem Zopf, eine in einen Vogel verhexte Prinzessin in ihrem goldenen Käfig.
Und aus den anfänglichen Kritzeleien fertigte er jetzt Zeichnungen an. Fügte Schattierungen ein, verstärkte die Linien, arbeitete die Gesichtszüge deutlicher heraus. Er betrachtete die Zeichnungen noch einmal, darauf bedacht, nicht auf das Wasserzeichen in dem Papier zu achten, das Rose ihm kurz nach der Hochzeit geschenkt hatte, und versuchte, nicht an diese glücklicheren Zeiten zurückzudenken.
Die Zeichnungen waren noch nicht ganz fertig, doch sie gefielen ihm. Es war in der Tat das einzige Projekt, das ihm noch Freude bereitete, das ihm half, die Heimsuchung zu vergessen, zu der sein Leben sich entwickelt hatte. Mit klopfendem Herzen befestigte Nathaniel die Pergamentblätter am oberen Rand seiner Staffelei. Nach dem Mittagessen würde er es sich herausnehmen, ein bisschen zu zeichnen, einfach so, ohne Ziel, wie er es als Junge getan hatte. Lord Mackelbys düstere Augen konnten warten.
Endlich, mit Marys Hilfe , war Rose angezogen. Sie hatte den ganzen Morgen in ihrem Sessel gesessen, sich aber schließlich doch entschlossen, ihr Zimmer zu verlassen. Wie lange hatte sie in diesen vier Wänden gehockt? Zwei Tage? Drei? Als sie aufstand, wurde ihr so schwindlig und so flau im Magen, dass sie beinahe umgefallen wäre, ein Gefühl, das ihr aus ihrer Kindheit vertraut war. Damals hatte Eliza sie mit ihren Märchen aufgemuntert, die sie sich in der Bucht ausgedacht hatte. Wenn es doch nur eine solch simple Medizin für Erwachsenenleiden gäbe.
Rose hatte Eliza schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Hin und wieder erblickte sie sie flüchtig vom Fenster aus, sah sie durch den Garten streifen oder auf der Klippe stehen, ein ferner Punkt mit wehendem rotem Haar. Ein paarmal hatte Mary an die Tür geklopft und ihr ausgerichtet, Miss Eliza sei unten und wünsche sie zu sprechen, aber Rose hatte jedes Mal abgelehnt. Sie liebte ihre Cousine, aber der Kampf, den sie gegen Kummer und Hoffnung führte, raubte ihr alle Energie. Und Eliza war so temperamentvoll, so sprühend vor Leben und Gesundheit. Das war mehr, als Rose ertragen konnte.
Leicht wie ein Geist schwebte Rose durch den mit Teppich ausgelegten Flur, eine Hand auf dem Handlauf, um ihr Gleichgewicht zu halten. Am Nachmittag, wenn Nathaniel von Tremayne Hall zurückkehrte, würde sie ihn in seiner Laube aufsuchen. Zwar war es kühl draußen, aber sie würde sich von Mary warm einpacken lassen, und Thomas konnte ihr einen Sessel und eine Decke bringen. Nathaniel musste sich einsam fühlen dort im Garten und er würde sich freuen, sie endlich wieder an seiner Seite zu haben. Sie würde sich zurücklehnen und sich von ihm zeichnen lassen. Er liebte es so sehr, sie zu porträtieren, und es war ihre Pflicht als Ehefrau, ihrem Mann Trost zu spenden.
Kurz bevor sie die Treppe erreichte, hörte Rose Stimmen von unten.
»Sie will es nicht melden, sie sagt, das geht nur sie was an.« Die
Worte wurden begleitet vom regelmäßigen Klopfen eines Besens gegen die Fußleiste.
»Die Mistress wird nicht begeistert sein, wenn sie davon erfährt.«
»Sie wird es nicht erfahren.«
»Die Mistress hat doch Augen im Kopf. Es ist schließlich nicht zu übersehen, wenn ein Mädchen einen dicken Bauch kriegt.«
Rose schlug sich die kalte Hand vor den Mund, schlich auf Zehenspitzen weiter, strengte die Ohren an, um mehr zu hören.
»Also, sie sagt, die Frauen in ihrer Familie bekämen keinen dicken Bauch. Deswegen meint sie, sie kann es unter ihren Kleidern verbergen.«
»Dann hoffen wir mal für sie, dass sie recht behält, denn wenn nicht, ist sie schneller hier raus, als sie gucken kann.«
Rose erreichte den Treppenabsatz gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Daisy im Dienstbotentrakt verschwand. Sally dagegen hatte weniger Glück.
Das Dienstmädchen schrak zusammen, und auf ihren Wangen bildeten sich hässliche rote Flecken. »Verzeihen Sie, Ma’am.« Sie machte einen unbeholfenen Knicks, bei dem sich der
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