Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Frau und seine Tochter waren Walkers Lieblingsmodelle, die er immer wieder darstellte, und als eines seiner besten Porträts gilt das Bild mit dem Titel Mutter und Kind . Das junge Paar kam 1913 bei einem tragischen Unfall ums Leben, als der Ais-Gill-Schnellzug kurz vor der schottischen Grenze mit einem anderen Zug zusammenstieß und in Flammen aufging. Ivory Walker starb kurz nach dem Tod ihrer Eltern an Scharlach.
Das ergab keinen Sinn. Nell wusste , dass sie die Tochter der Personen war, die in dem Eintrag beschrieben wurden. Rose und Nathaniel Walker waren ihre Eltern. Sie erinnerte sich an Rose, sie hatte sie sofort wiedererkannt. Und die Daten stimmten: Ihr Geburtsjahr, selbst ihre Reise nach Australien passten zu gut zum Todesdatum von Rose und Nathaniel, um Zufall sein zu können. Ganz zu schweigen von dem zusätzlichen Verbindungsdetail, dass Rose und Eliza offenbar Cousinen waren.
Nell schlug das Inhaltsverzeichnis auf und fuhr mit dem Finger über die alphabetische Liste. Bei Mutter und Kind hielt sie inne
und blätterte mit klopfendem Herzen nach vorn bis zu der angegebenen Seite.
Ihre Unterlippe zitterte. Sie mochte vielleicht keine Erinnerung daran haben, dass man sie Ivory genannt hatte, aber nun bestand kein Zweifel mehr. Sie wusste, wie sie als Kind ausgesehen hatte. Das kleine Mädchen dort auf dem Bild, das war sie. Auf dem Schoß ihrer Mutter, gemalt von ihrem Vater.
Warum galt sie dann für die offizielle Geschichtsschreibung als tot? Woher hatte das Who was who diese Angaben? Hatte jemand absichtlich falsche Informationen weitergegeben, oder hatte derjenige sie für tot gehalten, weil er nicht wusste, dass eine mysteriöse Märchenschreiberin sie auf eine Schiffsreise nach Australien mitgenommen hatte?
»Du darfst niemandem deinen Namen sagen. Das gehört zu dem Spiel, das wir spielen.« Das hatte die Autorin zu ihr gesagt. Plötzlich war es Nell, als hörte sie die helle Stimme der Autorin, die wie eine Meeresbrise an ihre Ohren drang. »Es ist unser Geheimnis. Du darfst deinen Namen nicht verraten.«
Nell fühlte sich wieder wie das vierjährige Mädchen von damals, empfand die Angst, die Verunsicherung, die Aufregung. Nahm den Geruch des schlammigen Flusses wahr, der so anders roch als der weite, blaue Ozean, hörte das Kreischen der hungrigen Themsemöwen, die Rufe der Seeleute. Zwei Fässer, ein dunkles Versteck, ein Streifen Sonnenlicht, in dem lauter Staubkörner tanzten …
Die Autorin hatte sie mitgenommen. Sie war gar nicht im Stich gelassen worden. Sie war entführt worden, und ihre Großeltern hatten nichts davon gewusst. Deswegen hatten sie auch nicht nach ihr suchen lassen. Sie hatten sie für tot gehalten.
Aber aus welchem Grund hatte die Autorin sie entführt? Und warum war sie dann verschwunden und hatte Nell allein auf dem Schiff zurückgelassen? Mutterseelenallein auf der Welt?
Nells Vergangenheit war wie eine russische Puppe, jede Frage enthielt eine weitere Frage.
Was sie brauchte, um all diese neuen Rätsel zu lösen, war ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte, der sie womöglich selbst als Kind gekannt hatte oder ihr so jemanden nennen konnte. Jemanden, der ihr etwas über die Autorin erzählen konnte, über die Mountrachets und über Nathaniel Walker.
Aber diesen Jemand, sagte sich Nell, würde sie nicht in den verstaubten Sälen der Bibliothek finden. Sie musste sich ins Zentrum des Rätsels begeben und nach Cornwall fahren, in dieses Dorf namens Tregenna. Zu dem riesigen, dunklen Herrenhaus Blackhurst, wo ihre Familie einmal gelebt und wo sie als kleines Mädchen gespielt hatte.
19 London England, 2005
Ruby verspätete sich zum Abendessen, aber das machte Cassandra nichts aus. Der Kellner hatte ihr einen Tisch an einem großen Fenster gegeben, und sie beobachtete gestresste Pendler, die nach Hause eilten. Gleich vor dem Fenster befand sich eine Haltestelle der Buslinie 25, und gegenüber lag die South-Kensington-Station der U-Bahn mit ihren hübschen Art-déco-Fliesen. Hin und wieder schwappte eine vom Strom des Verkehrs erzeugte Welle windzerzauster Leute ins Restaurant, die sich an Tischen niederließen oder an der Theke auf ihr in weißen Kartons verpacktes Abendessen zum Mitnehmen warteten.
Cassandra fuhr mit dem Daumen über den weichen, abgegriffenen Rand von Nells Notizheft und ließ sich die Aufzeichnung noch einmal durch den Kopf gehen, in der Hoffnung, sie irgendwann verdauen zu können. Nells Vater war
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