Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
konnte. Wenn ich zu Hause auf einen Baum kletterte, konnte ich Meilen um Meilen über Reisfelder zum Dorf und weit darüber hinaus sehen. Hier gab es für mich nur ein kleines Stück Himmel und kalten Stein und Luft, deren Geschmack mir fremd blieb.
Mit der Wanderung der Sonne nach Süden wurden auch die Tage kürzer. Die Früchte des Granatapfelbaumes reiften in dem kühleren Wetter. So erhielt ich meine erste Lektion, die über Gehorsam und Ordnung und Sauberkeit hinausging.
»Ein Zeichen von guter Schule ist die Fähigkeit, mit schlafwandlerischer Sicherheit immer das Richtige zu wählen.« Mistress Tirelle hielt ein kleines Messer in der Hand – Messer waren mir damals immer noch verboten. Ein Dutzend Granatäpfel lagen vor uns auf dem großen Holzblock in der unteren Küche. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft benutzten wir diese Küche, und ich war fasziniert von den Formen und Oberflächen, an die ich mich vage erinnerte.
Die Früchte besaßen verschiedene Schattierungen von hellem Melonenrot, je nach Reifegrad. Einige waren unrund, klumpig und verformt, andere entsprachen mehr der üblichen Form des Granatapfels.
»Welchen wählst du, Mädchen?«
Ich deutete auf einen fast am Ende des Tisches. Die Frucht hatte eine gleichmäßige Farbe und eine schöne Form. »Diese, Mistress.«
Sie reichte mir das Messer mit dem Griff voraus. Einen Augenblick lang, als der Holzgriff in meine Hand glitt, stellte ich mir vor, es gegen sie zu verwenden. Es wäre nur ein Augenblick der Genugtuung. Dann läge ich auf dem Boden und bekäme die Prügel meines Lebens.
Stattdessen schnitt ich den Granatapfel auf.
Das weiße Gewebe im Innern öffnete sich. Dunkelrote Samen hingen darin. Ich berührte einige, riss die Samen aus der klebrigen Masse.
»Eine gute Wahl. Du hattest einen guten Blick. Jetzt lege das Messer weg und nimm eine Frucht aus dem Korb hinter dir. Ich zähle bis drei, länger darfst du nicht schauen.«
Ich blickte über die Schulter und sah einen Korb mit Granatäpfeln hinter einem kleinen Block. Alle Früchte obenauf waren unreif, einige mit Schimmelflecken.
Rasch griff ich hinein und nahm eine feste und legte sie auf den Tisch.
Die Frucht war von schöner Farbe, aber unrund und am Fruchtstand verwachsen.
»Eine Frau würde vielleicht davon essen«, sagte Mistress Tirelle. »Aber du hättest eine bessere aussuchen können.«
Ich wollte fragen, wie, aber ich hatte keine Erlaubnis zu sprechen erhalten.
»Gehen wir hinaus.«
Ich folgte ihr auf den Hof. Der Wind war ein wenig kräftiger geworden und brachte eine Kühle mit sich, wie ich sie noch nie gespürt hatte. Der Baum war voller Früchte. Ein paar lagen auf dem Pflaster ringsum, die meisten heruntergefallenen lagen in dem Korb in der unteren Küche. Jemand anderer als ich hatte sie aufgesammelt.
»Während ich bis drei zähle, suchst du dir eine Frucht am Baum aus.«
Ich blickte hoch und hatte hundert im Blick. Ich deutete auf eine melonenfarbige in halber Höhe.
»Halte deine Hand ruhig«, sagte sie, dann holte sie eine lange Stange mit einem metallenen Körbchen am Ende. Das Gerät hatte ich bisher noch nicht gesehen. In der Nacht fanden so viele Dinge ihren Weg in unseren kleinen Hof.
Mistress Tirelle holte meinen Granatapfel mit dem Pflücker aus dem Baum herab. Ich weiß nicht, wie sie erkannte, welchen ich gemeint hatte, aber wie ich sehen konnte, war es der, den ich ausgesucht hatte.
»Die Schale ist geplatzt«, sagte sie. »Siehst du? Da sind Mücken drin. Du wirst lernen, gleich beim ersten Mal die beste Wahl zu treffen.«
Wir gingen zurück ins Haus, wo ich die verdorbene Frucht essen musste, die ich ausgesucht hatte. Das mehlige Fleisch war so bitter, dass mir die Tränen in die Augen traten, während die Mücken mich im Mund stachen. Aber letztlich hatte doch ich sie überlistet, denn ich lutschte das Fruchtfleisch von den Samen und spuckte sie in meine Hand, sodass ich sie statt meiner verlorenen Glöckchen aufbewahren konnte.
In der darauffolgenden Woche waren Mistress Tirelle und ich im Hof im Schatten unseres Baumes. Die Luft war seltsam kalt, die Sonne eine fahle und düstere Scheibe am Himmel. Wir übten meine Fertigkeit, Früchte auszuwählen. Sie zog mir eine Augenbinde vom Kopf, und ich hatte nur einen kurzen Blick, um einen Granatapfel zu wählen. Sie holte ihn herab, und wir untersuchten zusammen seine Mängel.
»Siehst du jetzt«, sagte sie, »wie viel deine Augen schon vor deinem Verstand wissen können? Ist die
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