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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Kräuter aussehen, können pulverisiert schon als kleine Prise töten.«
    »Dann ist diese Kunst wie all die anderen, die ich lerne.« Ich deutete mit meiner Erdbirne in der großen Küche rundum. »Ich soll nicht selbst kochen. Aber ich soll so viel vom Kochen verstehen, dass ich erkennen kann, wenn mich jemand mit Salz oder Öl oder dem Pulver von gefährlichen Kräutern vergiften will.«
    Mistress Tirelles Anflug eines Lächelns erschien kurz. »Federo hat eine gute Wahl mit dir getroffen, Mädchen.«
    Ich starrte auf meine Erdbirne und überlegte, wie ich sie ihr verabreichen könnte. Worte, erinnerte ich mich dann. Ich werde mit Worten triumphieren.
    Die Lektion war ganz klar: Alles konnte schaden, wenn man es auf eine bestimmte Weise verwendete. Nahrung. Worte. Ein mit Sand gefüllter Seidenschlauch. Selbst eine Person.
    Bringen sie mir bei, gut zu leben? Oder alles über das Töten und Sterben zu wissen?
    Mein Unterricht änderte sich mit den Jahreszeiten und mit dem Wachsen meiner Beine. Mistress Balnea brachte eines Tages das angekündigte Pferd in den Hof, und wir begannen den Unterricht am lebenden Tier, statt mithilfe der bebilderten Rollen und Pergamente. Unser Übungspferd war eine alte braune Stute mit einer weißen Blesse auf dem Kopf, die mich mit leeren Augen anblickte und sich anfassen und drücken und stupsen ließ. Man sagte mir, dass ich darauf reiten durfte, wenn die Zeit gekommen sei. Als ob das etwas Besonderes wäre. Manchmal brachte sie Hunde, verschiedene Arten an verschiedenen Tagen, und erklärte mir ihre Fähigkeiten und wofür sie sich eigneten, ihren Körperbau und ihre Bedürfnisse. Die Hunde waren lebhafter als die abgehalfterte alte Stute, aber auch sie schienen es gewohnt zu sein, zu kuschen.
    Solcherart veränderten sich auch andere Unterrichtsfächer. Ein großer Webstuhl wurde gebracht und über Nacht unter einer vor dem Regen schützenden Plane unter dem Granatapfelbaum aufgestellt. Mistress Leonie begann, mir die eher gewerblichen Aspekte der Webekunst beizubringen. Ein ganzes geschlachtetes Schwein traf ein, das Mistress Tirelle und ich drei Tage lang zerlegten, damit ich lernte, welches Stück Fleisch aus welchem Teil des Körpers stammte. Einen Teil machten wir mit Salz haltbar, einen anderen Teil kochten wir. Vieles wurde Abfall.
    Was immer sie aus mir zu machen planten, ich erkannte, dass der Faktor keine Kosten und Mühen für meine Ausbildung scheute.
    Die beste Veränderung im Unterricht brachte, wie insgeheim erhofft, die Tanzmistress. Sie erschien eines Abends unangekündigt nach dem Essen. Mistress Tirelle pflegte, mich um diese Zeit noch mit Lesen oder Schreiben zu beschäftigen und sich dann früh zurückzuziehen. Deshalb war ich überrascht, eine andere meiner Lehrerinnen um diese Zeit zu sehen – besonders die Frau mit dem silbernen Pelz.
    »Komm mit nach draußen, Mädchen«, befahl mir die Tanzmistress von der Tür her. Hinter ihr machte Mistress Tirelle verhalten ihrer Verärgerung Luft. Die Blicke zwischen ihnen sagten mir jedoch, dass der Streit längst entschieden war.
    Im Hof lag das Pflaster in hellem Mondlicht. Die frischen Austriebe an den Zweigen des Granatapfelbaumes waren silbrig dunkel und die Schatten tiefschwarz. Wir standen eine Weile schweigend unter den kalten Sternen.
    Das war ganz wunderbar. Jeder Augenblick meines Lebens war von steter Wachsamkeit beherrscht. Diese eisige Stille mit der einzigen Freundin zu teilen war etwas Gutes.
    »Du bist gut geklettert«, sagte die Tanzmistress. »Das freut mich.«
    Ich drückte die Hände aneinander.
    Ihre Stimme wurde traurig. »Du darfst immer sprechen in diesem Unterricht.«
    »Mistress, das Klettern hat mir Spaß gemacht.«
    »Gut. Würdest du es noch einmal versuchen, jetzt im Mondlicht?«
    »Wenn der Baum dunkel ist?« Wie schwer konnte es sein, den Weg hinauf zu finden? Ich war noch immer ziemlich klein zu diesem Zeitpunkt und hatte wenig Furcht, Neues zu erkunden, wenn man es mir erlaubte.
    »Dein Freund, der Mond, wird deinen Augen den Weg weisen, Mädchen.«
    Ich trug nur ein Kleidchen unter einem groben Überwurf, den ich selbst gewebt hatte. Hände und Füße waren nackt.
    Ich begann zu klettern, geleitet von der Erinnerung an meinen ersten Aufstieg. Die Baumrinde war knorrig und gewunden und bot meinen Fingern Halt. Die Äste wechselten ab, sodass meine Füße sie wie die Sprossen einer Leiter nutzen konnten.
    Klettern war pure Freude. Dabei war ich der Freiheit näher als jemals zuvor,

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