Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Sobald der Himmel klarer war, konnte ich den Granatapfelbaum schnell und ohne Furcht hochklettern.
Für dieses Kunststück wurde ich so heftig verprügelt, dass ich zwei Tage lang nicht gehen konnte. Mistress Tirelle und die Tanzmistress hatten einen Streit, der einzige, den ich je zwischen ihnen hörte. Dann kam die Entenfrau in meinen Schlafraum gewatschelt. »Hier ist dein Platz«, sagte sie ruhig. »Schau nicht über die Mauern, guck nicht durch das Tor hinaus.«
Ich vergaß mich und platzte heraus: »Was ist da draußen, das ich so fürchten soll?«
Mistress Tirelle überging meinen Verstoß. »Eine Welt, die du sehen wirst, wenn deine Zeit gekommen ist. Mädchen, man bereitet dich auf etwas Höheres vor. Lass das so geschehen, wie es deine Lehrerinnen für richtig halten.«
Wie Federo glaubte sie, dass meine Anwesenheit hier ein Segen für alle war. Wie konnten sie nur so etwas glauben?
Der Sommer kam und der Rhythmus der Jahreszeiten beherrschte meine Zeit im Granatapfelhof. Alles, was ich aus meinen frühesten Tagen noch in Erinnerung hatte, waren die endlose Hitze und das Feuer der Sonne am Himmel. Hier war der Himmel eine Uhr über dem Land, mit festen Zeiten für das Pflügen und Pflanzen, die Ernten und die Brache.
Nicht, dass ich etwas von der Landwirtschaft gesehen hätte. Nur den einen Granatapfelbaum meines Hofes mit seinen Früchten und Samen, die nun verschwunden waren wie meine Glöckchen, aber sicherer als diese wiederkommen würden. Sobald ich den Vorgang des Lesens begriffen hatte, zeigte mir Mistress Danae immer mehr Bücher. Darunter befand sich auch eine Abhandlung über Landwirtschaft: Der neue Ackerbau mit von Pferden gezogenen Saatstreuwagen. Das war der erste wirklich alte Text, den ich las. Ich brauchte viele Wochen, um ihn durchzuackern, und ich verstand vielleicht ein Fünftel davon.
Andererseits war ich mit der Landwirtschaft aufgewachsen. Papa und Ausdauer bearbeiteten die Felder, brachten den Reis heim, trennten die Spreu von den Körnern. Ich erkannte einiges wieder, was Tullius, der Autor des Buches, beschrieb. Mein Interesse wurde dadurch geweckt – es war etwas Vertrautes, vermischt mit Geschichten von Prinzen und Schlachten und Halbgöttern und der Farbenpracht der Welt.
Außerdem lernte ich aus dem Buch, dass sich selbst die Sprache der Menschen im Laufe der Zeit änderte. Es gab Zeiträume für die Sprache, so wie es Zeiträume in den Jahren oder im Leben von Frauen gab. Ich beschäftigte mich eine Weile mit altem Petraeanisch, brauchte aber nie den Mut auf, Mistress Tirelle oder einer anderen Mistress in dieser Form zu antworten.
Mein Unterricht fand jetzt meist unten statt. Wir begannen, öfter in der großen Küche zu kochen. Die Auswahl an Töpfen, Geräten, Gewürzen und Zubereitungsmethoden war mannigfaltiger als oben. Mistress Tirelle und ich frühstückten fast immer dort. An manchen Tagen nahmen wir unten auch eine rasche, einfache Mittags- oder Abendmahlzeit ein. Vor allem aber lernte ich in diesen Räumen, was alles mit Nahrungsmitteln möglich war. Zu Anfang waren die Lektionen einfach, aber ich hatte bereits erkannt, dass man nie auslernen würde, wenn man die Möglichkeit hatte, sein Leben in einer großartigen Küche zu verbringen.
Eines Tages säuberten wir Erdbirnen – kleine verrunzelte, purpurne Knollen mit haarfeinen Wurzeln.
»Diese Knolle muss wenigstens zehn Minuten sprudelnd gekocht werden«, erklärte Mistress Tirelle.
Nichts wurde je aufgeschrieben. Es wurde offenbar erwartet, dass ich mir alles merkte. Die schiere Menge an Details in der Küche war überwältigend.
Ich drückte kurz die Hände aneinander. Auf diese Weise deutete ich an, dass ich zu einem Thema eine Frage stellen wollte.
»Du darfst sprechen, Mädchen.«
»Was passiert, wenn man sie roh oder halb gar isst?«
Sie bedachte mich mit einem langen Blick. »Eine Person könnte ziemlich krank werden oder sogar sterben.«
Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass Nahrungsmittel eine Waffe sein könnten. »Dann ist die Erdbirne also schädlich?«
Mistress Tirelle legte ihre Wurzel hin und trocknete sich die Hände. »Mädchen, deine Frage greift dem Lehrplan vor, aber ich werde sie dir dennoch beantworten. Alles kann schädlich sein. Die Öle, die wir zum Braten verwenden, würden deiner Verdauung schaden, wenn du sie wie Wein trinkst. Wenn ich dir so viel Salz zu essen gäbe, bis du satt bist, würdest du bald danach verdursten. Einige Kräuter oder Pflanzen, die wie
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