Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
seit mich Federo aus dem Bereich des Klangs von Ausdauers Glocke fortgeholt hatte. Kein Wunder, dass Mistress Tirelle so heftige Einwände hatte. Meine Phantasie flog mit jedem Klimmzug höher, und der uralte Mond war mein ältester Freund.
Wenn der Baum hoch genug war und über ganz Copper Downs hinausragte, würde ich dann bis nach Hause zu Papas Feuer und dem schnaufenden Atem des Ochsen blicken können?
Die oberen Äste waren leicht und dünn. Sie schwankten selbst unter meinem geringen Gewicht. Ich konnte das Dach des Granatapfelhofes, ein Kupferblech, das den Regen abhielt, im Mondlicht leuchten sehen. Die Blausteinmauern besaßen oben einen breiten, ebenen Wehrgang, den ich vom Boden aus nicht sehen konnte. Ein Ort für Wachposten, dachte ich, und erinnerte mich an die Erzählungen von Schlachten, die mir Mistress Danae vorgelesen hatte. Und ich fragte mich, ob dieses Haus Soldaten brauchte. Dahinter sah ich Dächer, die die Stadt erahnen ließen, die ich bei meiner Ankunft im Hafen so kurz gesehen hatte.
Ich wandte mich um. Die höhere innere Mauer unseres Hofes war nun deutlicher als Turm zu erkennen. Die Wipfel weiterer Bäume ragten aus den anderen Höfen, auf die ich zuvor schon einen Blick erhascht hatte. Einen langen Moment fragte ich mich, ob auch andere Mädchen in dieser Nacht auf ihre Bäume gestiegen waren, ob ich meinen Rivalinnen über den Rand der trennenden Mauern hinweg einen Blick zuwerfen könnte.
Die Tanzmistress hatte nicht verlangt, dass ich mich beeile, deshalb kehrte ich auch nicht sofort zurück. Stattdessen blickte ich hinab auf die Plane, die den Webstuhl bedeckte, auf die Truhe, in der die Ausrüstung für die Pferde und die Hunde aufbewahrt wurde, und auf das Torhaus, das den Weg in die Freiheit bedeutete.
Meine Welt war winzig, aber weitaus prächtiger als alle Wassergräben und Tümpel auf Papas Bauernhof. Ich hatte kein Wort für Bauernhof in meiner Sprache. Wo wir lebten, lebten wir eben. Ich hätte nicht lesen gelernt oder rechnen oder die feine Kunst des Kochens mit allen Giften der Welt, wenn ich dortgeblieben wäre.
Ich wäre keine Sklavin gewesen, wäre ich nicht hierhergekommen.
»Niemand wird mich besitzen«, sagte ich mir in meiner Sprache.
Der Abstieg erwies sich als schwieriger, als der Aufstieg gewesen war. Ich kletterte vorsichtig und rutschte trotzdem zweimal ab, bevor ich schließlich die letzten zehn Fuß hinunterfiel und die Webstuhlplane nur knapp verfehlte. Aber ich landete auf den Beinen und in aufrechter Haltung.
Die Tanzmistress starrte mich an. Ihre Augen lagen im Dunkeln. »Was hast du da oben gesehen?«
Ich öffnete den Mund und hielt inne. Sie wollte sicher keinen Bericht über das Kupferdach meines Hauses. Was hatte ich gesehen? Ohne nachzudenken platzte ich mit der wirklichen Antwort heraus, die mir in den Sinn kam: »Den Weg in die Freiheit.«
»Behalte ihn in deinem Herzen. Ich kann dich nicht aus diesem Ort befreien, aber zusammen können wir der Freiheit näher sein.«
Ich hätte sie so gern gefragt, wie, doch die Geduld, die man mir eingeprügelt hatte, war eine unvergessliche Lektion.
»Jetzt läufst du um den Hof, so schnell du kannst«, verlangte sie.
»Wie lange?«
»Bis ich dir sage, dass du aufhören kannst, oder bis deine Beine nachgeben.«
Als ich schließlich ins Haus ging, schmerzten meine Schultern, und meine Gedanken flogen.
Am folgenden Tag fiel mir das Gehen schwer, doch diesmal war es eine Freude, keine Schmach. Der Schmerz war wohlverdient. Er war nicht das Ergebnis von Grausamkeit, sondern ehrlicher Anstrengung. Die Tanzmistress berichtete Mistress Tirelle, dass ich mich bei der Übung von Tanzschritten verletzt hätte.
Federo erschien an diesem Tag wieder. Er kam zu Fuß statt zu Pferd und machte einen müden Eindruck. Das Meer hatte seiner Kleidung zugesetzt und die Sonne seine Haut gerötet, sodass er weniger wie eine Made und mehr wie eine heranreifende Beere aussah.
Er fand mich im Hof bei Mistress Leonie am Webstuhl. Sie entschuldigte sich, als sie Federo bemerkte, und eilte, Mistress Tirelle zu suchen, wie ich annahm. Er setzte sich auf die kleine gepolsterte Bank und blickte mich eine Weile an.
Ich bot ihm ein schwaches Lächeln, mehr brachte ich nicht zuwege.
»Wie geht es dir, Mädchen?«, fragte er schließlich.
»Ich lerne.«
»Gut.« Federo griff nach meiner Hand. Er drehte sie hin und her, betrachtete mein Handgelenk, dann meine Finger, meine Handfläche und den Handrücken. »Fällt es dir
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