Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
»Später werde ich dir helfen.«
»Du sagst immer ›später‹«, zischte Begierde. »Aber ich will es, ich will es jetzt.«
»Meine Macht liegt im Dahingehen, nicht in der Erfüllung.« Ihr Bruder lächelte mit dem Hauch eines Versprechens. »Halte mich, wofür du willst.«
Begierde konnte ihre Gedanken nicht von all den heranreifenden Menschen und den Ogern und Kobolden und ihren nahen Verwandten losreißen, deshalb suchte sie Zeit in seinem Himmelsturm auf, während sich Vater Sonnenknochen und Mutter Mondaugen in ihre Privatgemächer hinter dem Horizont zurückgezogen hatten.
»Was ist das für eine Hilfe, die du mir anbieten kannst?«
Zeit lächelte wieder, mehr versprechend dieses Mal. »Teile das Lager mit mir zur Erfüllung meiner Träume, und ich gewähre dir geraubte Stunden, in denen du dich mit den Beseelten im Garten vergnügen kannst.«
»Mit dir das Lager teilen?« Begierde lachte. »Du bist ein kraftloses Jüngelchen. Onkel Ozeans Träume trüben dir noch den Blick.« Sie berührte ihre üppigen Brüste durch ihr Kleid und reckte sie Zeit spöttisch entgegen. »Warum sollte ich meine Schätze mit dir teilen?«
Zeit lächelte wieder, viel versprechend dieses Mal. »Weil Begierde immer Zeit unterworfen ist. Im Neugeborenen ist sie nicht vorhanden, im Kind unentwickelt, im Jugendlichen ein Sturm, unerfüllt im Alten. Was ich dir gewähre, wird in der Welt hundertfach wiederkehren, wenn Vater und Mutter den Garten erwecken.«
Da zog Begierde ihr Kleid über ihren Kopf und zeigte ihrem Bruder ihren Körper. Sie war die perfekte Frau, mit Haar von jeder Farbe, so hell leuchtenden Augen, dass sie gar keine Farbe zu besitzen schienen, Lippen so voll und einladend wie die Lilie zwischen ihren Beinen, und Haut von der Zartheit eines frischen Pfirsichs. Und obgleich Zeit kraftlos und bleich war und seine Männlichkeit klein, konnte er deren Steifheit bis in alle Ewigkeit halten, wenn er wollte – die Macht seines Namens –, und so lag er mit seiner Schwester bis tief in die Nacht hinein, bis aus ihren Schreien der Lust Bitten um ein Ende wurden. Denn selbst Begierde kann letztlich an ihren Gelüsten verzagen.
Zeit ergoss schließlich seinen letzten Samen auf ihre Brüste. Er erhob sich, riss ein Stück vom Nagel seines linken kleinen Fingers und drückte ihn ihr in die zitternde Hand. »Nimm das mit, wenn du in den Garten gehst. Immer, wenn du es bei dir hast, gehört dir dort alle Zeit, die du brauchst.«
Begierde war so müde und wund, dass sie bei der Vorstellung schauderte, dass auch nur ein einziger Penis ihrem Körper noch nahe kommen könnte. Aber sie brannte darauf, Zeits Versprechen zu testen. Sie schlang ihr Gewand um einen Arm, denn sie war zu erschöpft, es über den Kopf zu ziehen, und humpelte langsam in den Garten.
Sie roch so nach Lust und Erfüllung, dass sich selbst die kalten Fische in ihren Bäumen regten, als sie vorbeiging. Vögel flatterten auf ihren Ranken voll Hunger nach ihrem Fleisch oder auch nur dem salzigen Duft ihres Atems. Als Begierde durch die Reihen der pelzigen Tiere ging, wanden die sich und brüllten, aufgestört aus ihren Träumen.
Aber als sie die Spaliere erreichte, an denen die Väter und Mütter all der beseelten Rassen hingen, taten sich ihre Augen auf, ein Paar nach dem anderen. Penisse richteten sich auf, Brustwarzen wurden fest, Zungen glitten über Lippen. Jedes Wesen in diesem Garten roch sie, begehrte sie, lechzte nach ihr.
In ihrem wunden und müden Zustand erfasste Begierde Furcht, und sie floh in die Blaue Himmelshalle. Sie ließ ihr Kleid und Zeits Nagelstück im Garten fallen, während sie lief. Als später Vater Sonnenknochen kam, um nach seinen Gewächsen zu sehen, fand er die Beseelten wach und die Tiere verstört vor. Er entdeckte auch den Beweis für Begierdes Eindringen und Zeits Beihilfe.
»Der Schaden ist angerichtet«, berichtete Vater Sonnenknochen Mutter Mondaugen. »Unsere Kinder haben die Beseelten geweckt. Die Neuankömmlinge werden mit ungeformten Seelen auf die Welt kommen.« Er weinte goldene Tränen, die den Boden verbrannten.
Mutter Mondaugen blickte hinaus aus dem taghellen Himmel. »Vielleicht ist das gut so. Jeder mag seinen eigenen Weg finden. Jeder kann seine eigene Seele entwickeln, die, die zu ihm passt.«
»Aber so viele werden verloren sein. Herzlos, böse, grausam.«
»Neue Namen für unsere Kinder, Vater. Nicht jedes Kind kann Treue oder Wahrheit sein. Lass die Beseelten ihren eigenen Weg finden.«
Vater
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