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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Wahrheit zu sagen. »Ich bin entführt worden und muss hier in Copper Downs Knechtschaft erdulden. Aber ich werde meine Freiheit zurückgewinnen.«
    Es gab keine Schläge. Kein Geschrei. Keinen Rüffel. Nur einen Moment tiefer Traurigkeit in den schrägen, violetten Augen der Tanzmistress. Sie öffnete ihre Arme, und ich sank hinein. Es war das erste Mal, dass mich an diesem Ort freundliche Arme umfingen.
    Ich schluchzte nicht in ihr Fell, obgleich ich es sehr gern getan hätte. Ich ließ mich nur einen Moment festhalten, bis mein Atem ruhiger wurde.
    »Mädchen«, sagte sie schließlich. »Deine Gedanken gehören dir. Nicht für ein einziges Wort, das du gesagt hast, mache ich dir Vorwürfe. Aber wenn dir dein Leben lieb ist und du von einer Macht träumst, die du eines Tages zu besitzen hoffst, dann behalte diese Worte für dich und sprich sie nie mehr in diesen Mauern aus.«
    Ihre Worte waren ein Hoffnungsschimmer für ein Mädchen in der Finsternis. »Ja, Mistress«, murmelte ich. Dann löste ich mich aus ihrer Umarmung. »Sag mir, was du mir beibringen wirst, bitte.«
    Sie wirkte überrascht. »Tanzen, natürlich.«
    Wir tanzten eine Weile.
    Ich sah keine Möglichkeit, noch eine Glöckchenseide anzufertigen und es geheim zu halten. Stattdessen begann ich, in meiner Phantasie eine zu nähen. Jede Nacht bevor ich einschlief, zählte ich die bisherigen Glöckchen meines Lebens. Am Anfang waren die einfachen Blechglöckchen aus meiner Zeit mit Papa, dann kamen die Eisenstücke auf meiner Reise mit Federo. Danach die Granatapfelkerne der Monate in diesem Haus.
    In meinen Gedanken läuteten sie alle, auch die aus Holz und Eisen. Jede Nacht, nachdem ich sie gezählt hatte, soweit ich mich erinnerte – einige Zeitspannen musste ich schätzen –, nähte ich in meiner Vorstellung ein neues an. Da es nur in Gedanken geschah, konnte ich Nadeln aus Bein oder Elfenbein, Stahl oder Holz verwenden. Und auch den Faden konnte ich mir aussuchen.
    Das Wichtigste war, mitzuzählen. Im Granatapfelhof waren die Wochen gekennzeichnet durch den täglichen Lehrplan und durch die Lieferung bestimmter Nahrungsmittel. Die Anzahl meiner Glöckchen war die Anzahl meiner eigenen Tage, und wie sonst sollte mein Geist den Weg nach Hause finden, wenn mein Leben zu Ende war.
    Ich verlor nie ein Wort darüber, sagte zu niemandem etwas, nicht einmal zur Tanzmistress. Ich durfte es nicht tun, denn die Bestrafung würde von solcher Härte sein, dass Ströme von Blut flossen.
    Dennoch war sie meine heimliche Freundin während der dunkelsten Tage meines zweiten Winters und des düsteren Frühlingsbeginns, der folgte. Die eine Stunde an jedem Tag, in der ich wenigstens ein wenig darüber sprechen konnte, was mich bewegte, war die im Übungsraum mit ihr. Ich lernte Schritte, Balance und zu gehen. Ich lernte das Gefühl für den Körper und den Raum, den er einnahm, zu entwickeln. Manchmal war es wirklich Tanz, aber meist nur Bewegung.
    »Die meisten Menschen halten ihre Körper für flach, wie eine Zeichnung von ihnen«, machte sie mir klar. »Stell es dir so vor, als ob du dir eine Papierpuppe bastelst und sie auf einer kleinen Bühne hin und her bewegst. Aber das stimmt nicht. Du hast Tiefe. Deine Fersen und Ellenbogen schwingen vor und zurück. Wenn du dich umdrehst, füllt dein Körper einen Bogen im Raum um dich herum aus.«
    Obgleich ich die Worte begriff, fiel es mir schwer, die Vorstellung dahinter zu verstehen. Sie ließ mich seilhüpfen – ein Spiel, von dem ich noch nie gehört hatte – erst vorwärts, dann rückwärts. Zu hüpfen, wenn das Seil hinter mir herunterkam, erforderte, dass ich ohne zu schauen wissen musste, wo sich sowohl das Seil als auch meine Füße befanden.
    Das war so ähnlich wie Mistress Tirelles Anweisung, Früchte mit einem einzigen kurzen Blick auszuwählen, oder Mistress Leonies endlose Vorträge über die Feinheiten von Nähten. Ich musste hinter das blicken, was mein kurzer Blick sah, und erkennen, was wirklich da war, so unsichtbar für meine Augen wie mein Rücken.
    Diese Unterrichtsstunden waren seltsam und still, aber bald konnte ich die Anmut spüren, die sie mir verliehen. Ich konnte in der Küche ein fallendes Messer fangen, bevor es auf dem Boden aufschlug, vermochte die Stufen vom Balkon zur Veranda hinabspringen. Ich erkannte auch, dass ich stark war. Sehr stark, verriet mir die Tanzmistress, stärker als die meisten Jungen. Woher sollte ich das wissen? Sie half mir zu lernen, diesen Vorteil zu nutzen.

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