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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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schwer?«
    »Manche Lektionen sind schwieriger als andere.«
    »Welche der Mistresses magst du am liebsten?«
    Ein echtes Lächeln entfloh mir einen Moment lang. »Die Tanzmistress.«
    Er antwortete lächelnd. »Gut.«
    »Ich habe eine Frage.« Ich hatte bisher nicht gewagt, sie selbst zu fragen.
    »Du darfst sie stellen«, sagte Federo förmlich.
    »Warum haben alle Mistresses außer ihr Namen? Sie hat nur einen Titel.« Und einen nicht sehr treffenden, dachte ich.
    »Eine gute Frage.« Er neigte den Kopf ein wenig. Ich konnte sehen, dass ein Auge blutunterlaufen war, als hätte er vor kurzem einen Schlag ins Gesicht erhalten. »Ihr Volk ist nicht sehr zahlreich und weit verstreut. Die Genetten verraten ihre Namen nicht einmal einander. Es ist ihre Art. Sie nennen es die Wege ihrer Seelen, ihr wirkliches Ich zu verbergen. Es heißt, es ist so tief verborgen, dass es verflochten mit den Seelenpfaden anderer Genetten selbst den Tod des Körpers überlebt.« Er zuckte die Schultern. »Jedenfalls haben einige unabhängig vom Zustand ihrer Seelen Titel. Andere können nach der Farbe ihrer Augen oder ihrer Lieblingsspeise angesprochen werden.«
    »Ich habe keinen Namen.« Allerdings hatte ich einst einen gehabt. »Doch mein wirkliches Ich ist niemandem verborgen. Die Mistresses haben jederzeit alles von mir im Blick. Sie verändern mich von Kopf bis Fuß jeden Tag.«
    Der letzte Funken Freude floh aus ihm wie ein Vogel vor dem Sturm. »Das ist kein Vergleich. Deine Lage und ihre sind so verschieden, wie die Sterne verschieden sind von den Lampen deines Hauses.«
    »Beide erhellen die Nacht.«
    Er berührte für einen Moment mein Haar. »Vergiss niemals, wer du bist.«
    »Ich gehöre nicht dir«, sagte ich in meiner Muttersprache.
    »Schweigen ist dein Freund«, erwiderte er in derselben Sprache.
    Ich blickte ihm nach, als er langsam durch den Hof ging, um mit Mistress Tirelle zu sprechen. Nach kurzer Zeit kehrte Mistress Leonie zurück, um mich weiter in den Textilkünsten zu unterrichten.
    Es gab auch sonderbarere Lektionen zu lernen. Auf der Suche nach Lesestoff stieß ich unter Mistress Danaes Büchern auf eine Geschichte, die in zwei Versionen erzählt wurde. Dass Geschichten von den Göttern immer wieder erzählt werden konnten, war eine Art Offenbarung, wenn man bedachte, wie Priester in ihren Schriften um die rechte Interpretation bemüht waren.
    Die erste, die ich fand, war die Geschichte eines Mannes und handelte von Göttinnen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, sich um Frauen zu kümmern. Viel später in meinem Leben war diese Geschichte aus anderen Gründen für mich von Bedeutung, aber damals war es einfach nur das Bild der Welt, das meine Neugier weckte.
    Die Geschichte des Vaters
    Vor langer Zeit war die Welt ein Garten, in dem jede Rasse von Wesen und jede Art von Kreatur in ordentlichen Reihen wuchs, die von riesenhaften Göttern gehegt wurden. Vater Sonnenknochen, der oberste von ihnen, ging jeden Tag durch die Reihen und vergewisserte sich der Gesundheit seiner Feldfrüchte. Mutter Mondaugen kam in der Nacht, um die Triebe auszulichten und die Ernte einzubringen.
    Begierde, ihre dritte Tochter, durfte unter den Fischbäumen und Vogelranken spielen, aber der Aufenthalt in den Reihen der Gewächse, die Pelz oder Haar hatten, war ihr verboten. »Deine Natur wird sie vor der Zeit wecken«, sagte Mutter Mondaugen, als sie in der Blauen Halle des Himmels speisten. »Bleibe lieber bei den kalten Wasseratmern und den gedankenlosen Fliegern, die deine Anziehung nicht spüren.«
    »Das ist nicht fair«, klagte Begierde auf die Art, wie es Kinder überall tun.
    »Nichts ist fair«, polterte Vater Sonnenknochen. »Es ist ein großes Glück, wenn wir Ordnung in dieser Welt finden, von Fairness ganz zu schweigen. Dein Bruder Zeit beklagt sich, dass ihm die Fischbäume verwehrt sind. Er nörgelt ständig von Fairness, wenn er durch die Spaliere geht, wo die Beseelten wachsen.«
    Die Beseelten waren es, mit denen Begierde spielen wollte, jene mit zwei Armen und zwei Beinen und den verbotenen, wundervollen, wilden Haaren. Obgleich sich ihre Augen noch nicht geöffnet hatten und ihre Seelen noch nicht erblüht waren, träumte Begierde davon, einen nach dem anderen zu umarmen, die Lippen auf ihre zu pressen, den eigenen Körper an die ihren zu pressen, bis sie vereint mit ihnen an den Spalieren hing und ihre Lust zu ihren Vettern, den Sternen, hinausrief.
    »Ich kenne deine Gedanken«, flüsterte Bruder Zeit.

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