Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Sonnenknochen hörte auf den Rat seiner Gemahlin. Er öffnete die Gartentore, pflückte alles, was darin gewachsen war, und trieb es hinaus in die Welt. Die Fische fielen in die Flüsse, Seen und Meere. Die Vögel schwangen sich in den Frühlingshimmel einer neuen Welt. Tiere brüllten und flohen über das Land. Und die Beseelten begaben sich zu den Plätzen, die ihnen am besten gefielen, und errichteten Städte und Bauernhöfe und erzählten einander Geschichten von den heißen Träumen, die nachts in ihren Schlaf eindrangen.
Dann ging Vater Sonnenknochen zu Zeits Himmelsturm und verfluchte die Treulosigkeit seines Sohnes. Seither schwindet Zeits Kraft im Lauf des Jahres, von der wachsenden Stärke der länger werdenden Tage bis zum Siechtum, das wiederum mit der Wintersonnwende endet, sodass er alle Schmerzen eines Lebens im Laufe eines jeden Jahres durchmachen muss. Das ist die Strafe dafür, dass er mit seiner Schwester Begierde das Lager teilte.
Dann begab sich Vater Sonnenknochen zur Blauen Himmelshalle und verbannte Begierde für die Dauer eines Jahres und eines Tages in ihre Gemächer, sodass sie erst wieder herauskommen würde, wenn sich der Fluch ihres Bruders zum ersten Mal erfüllt hatte und sie sehen konnte, was er erdulden musste.
Doch Zeits Samen beflügelte Begierde. Während sie in ihre Gemächer verbannt war, gebar sie eine Flut von Schwestern, eine für jedes Samentierchen, das ihr Bruder in sie ergossen hatte. Sie säugte die Töchter mit dem Samen, der sich noch immer auf ihren Brüsten befand, sodass sie gleichzeitig die Milch von Mann und Frau tranken. Diese Tausende von Schwestern wurden die Göttinnen von Frauen und strömten hinaus in die Welt, um Hebammen und Müttern beizustehen, Lesbierinnen und Dirnen und kleinen Mädchen überall.
Seither haben es sich die Götter der Männer zur Aufgabe gemacht, diese Schwestern zum Vater Sonnenknochen nach Hause zu schicken, wann immer sie können, obgleich es eine schreckliche und schwierige Sache ist, eine Göttin zu töten. Von den Göttern, die dieses Ziel mit größter Inbrunst verfolgten, verschrieb jeder ein Stück von sich einem heiligen Orden, welcher den Safranturm als Zeichen der Hinwendung zur Wiederherstellung der Reinheit der Seelen und der Wiedergutmachung von Begierdes Unrecht errichtete.
Ich war recht erstaunt über die Gegensätzlichkeit dieser Geschichte und der anderen, die ich etwa einen Monat später fand, und welche das Geschehen aus der Sicht einer Frau beschrieb. Mistress Danae konnte mir nicht sagen, ob es sich dabei um historische oder nur für den Unterricht bestimmte Geschichten handelte, aber, wie sie sagte, was machte es für einen Unterschied? Sie meinte auch, ich müsste eine Theologiemistress haben, doch das war vom Faktor nicht geplant, deshalb gab sie mir weitere Bücher über die Stärken und Schwächen der Götter.
Ich für meinen Teil habe aus beiden Geschichten etwas gelernt.
Die Geschichte der Mutter
Einst, als die Welt jung war, herrschte Mutter Mondaugen als oberste der titanischen Wesen am Firmament. Vater Sonnenknochen war noch nicht erwacht, um seinen Platz zu ihrer Rechten als ihr Gemahl einzunehmen, sondern lag noch in endlosem Schlaf auf einem Bett aus heißem Sand unter ihren Hallen, deren Wände aus Elfenbein waren. Mutter Mondaugen begab sich manchmal hinab zu ihm, wenn sie von ihrer Arbeit im Himmel ausruhte. Selbst wenn Vater Sonnenknochen schlief, vermochte sie, ihm Samen abzunehmen, um ihre Kinder zu erschaffen.
Mutter Mondaugens Lieblingstochter war Begierde. Begierde war von einer Schönheit, welche selbst der ihrer Mutter in nichts nachstand. Sie besaß Haar vom Gold des Sommerweizens und vom Braun der Herbstblätter, von der Schwärze des Wintereises und der blassesten Röte des Frühlings gleichzeitig. Ihre Haut schimmerte im Glanz der Sterne weiß wie Sahne. Ihre Lippen waren süßer als Honig und berauschend wie Wein. Alles an Begierde spiegelte die Vollkommenheit des Morgens der Welt wider.
Nun geschah es, dass Mutter Mondaugen auf dem Land rings um ihre Elfenbeinhallen einen Garten pflegte. Der Garten enthielt alle Geschöpfe der zukünftigen Welt. An Ranken, Wurzeln und Bäumen reiften sie heran. Im Osten brüllten Rinder in ihren Wiegen aus Erde. Weitere Tiere des Feldes wuchsen um sie herum, jedes an seinem eigenen Stängel und Stiel. Im Norden wuchsen die kalten Kreaturen und jene mit Flügeln, die ohne Fell und Klauen und Gedanken in der Welt sind. Im Süden hielten sich
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