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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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bewusst, wie sehr mein Körper schmerzte. Der Sturz von der Mauer des Faktorhauses hatte meine Hüften und meinen Rücken in Mitleidenschaft gezogen. Das Laufen und Klettern an der Seite der Tanzmistress hatten mich abgelenkt und ins Schwitzen gebracht. Aber hier in der Bewegungslosigkeit und Stille verflog die Wärme. Mein Fuß schmerzte, wo er Mistress Tirelles Kinn getroffen hatte.
    »Alles tut mir weh«, sagte ich leise.
    »Dann versuch zu schlafen.« Sie bot mir ein Stück krümelnden Käse und eine Hand voll Blätter an.
    Ich nahm sie. Der Käse besaß einen starken Ammoniakgeruch, war salzig und durchzogen von Blauschimmel. Die Blätter waren getrockneter Kohl, mit Schmalz bestrichen und zusammengerollt.
    Alles roch himmlisch für meinen knurrenden Magen. Ich schlang es hinein. Gleich danach meldete sich heftiger Durst.
    »In der Nähe des Fensters stehen Wasserfässer«, erklärte die Tanzmistress. »Sie sind voll Regenwasser, das vermutlich ein wenig nach Dach schmeckt.« Sie beugte sich herab. »Ich muss gehen und mich sehen lassen. Es darf kein Verdacht entstehen, dass ich etwas mit den Ereignissen im Haus des Faktors zu tun haben könnte. Wirst du hierbleiben und dich vollkommen still verhalten?«
    »Ja«, erwiderte ich mit dem Mund voll Kohl.
    »Ganz gleich, wie wütend oder verzweifelt du sein magst, stampf nicht mit den Füßen und wirf keine Sachen. Am Morgen werden Männer da unten arbeiten, die dich hören könnten.«
    Ich blickte auf meine Hände und das halb verzehrte Essen. Mistress Tirelle würde nie wieder essen. »Nein, Mistress.«
    »Wenn es sicher genug ist, werde ich wiederkommen. Wahrscheinlich morgen Abend. Federo wird dann vielleicht ebenfalls hier sein.«
    Mein Herz setzte einen Schlag aus, und ich fragte mich, warum. Selbst meine Freunde brachten mir nur Ärger. »Ich werde still sein.«
    »Hoffen wir es.« Sie strich mir durchs Haar. »Wir werden dafür sorgen, dass es dir an nichts fehlt. Auch wenn es für uns nicht immer leicht sein wird.«
    »Gute Nacht«, sagte ich, dann war sie fort.
    Der Schlaf brachte nur Erinnerungen an den Tod. Meine Beziehung zu meinen Träumen ist bis heute eine beunruhigende geblieben, aber diese Nacht war die schlimmste, die ich je hatte. Ich erinnere mich nicht an die Träume, die ich hatte, als Federo mich aus meinem Zuhause entführte. Es heißt, dass die Träume von kleinen Kindern so ungeformt wie ihre Gedanken sind, aber das kann nicht stimmen. An meinen Gedanken war damals nichts ungeformt. Ich wusste, was ich wollte und nicht wollte.
    Später träumte ich von der Vergangenheit, von Ausdauer und meiner Großmutter und meinem kleinen Leben in den Wassergräben und auf Papas Reisfeldern. Es waren Träume von Verlust und Bedauern. Als ich älter und meine Ausbildung vielfältiger wurde, träumte ich oft von den Dingen, die ich machte – aus dem Ofen herausquellende, endlose Brotlaibe, oder ein Buch, das ständig neue Seiten bekam, schneller, als ich sie lesen konnte.
    In dieser Nacht träumte ich jedoch nur vom Tod. Vielleicht hatte ich damals meine Großmutter getötet. Wie war meine Mutter gestorben? Mistress Tirelles Genick brach immer wieder knirschend unter meinem Tritt. Da war der Geruch, als sich ihre Eingeweide entleerten, während sie starb, und die Art und Weise, wie sie leblos und ohne eine Spur von Gegenwehr zu Boden stürzte.
    Wie viele Arten zu töten gab es? Wie viele Arten zu sterben? Diese Fragen verfolgten mich durch die quälenden Visionen dieser Nacht, bis ich plötzlich erwachte und die Antworten wusste.
    Es gibt so viele Arten zu sterben, wie es zu leben gibt.
    Es gibt so viele Arten zu töten, wie es Mörder gibt, die sie ersinnen.
    Mein ganzer Körper schmerzte, als wäre eines von den Pferden des Faktors über mich hinweggetrampelt. Ich war von meinem Bretterlager auf den Holzboden heruntergerollt. Ich fühlte mich nicht wirklich wie eine Mörderin. Aber ich wusste, dass ich eine war. Ich wusste auch, dass ich eines Tages sterben würde. Vermutlich sehr bald, wann immer der Faktor mich in die Finger bekam.
    Ich stand auf und schwankte vor Müdigkeit und einem überwältigenden Schwächegefühl. Die Furcht und die Anstrengungen der hektischen Flucht forderten ihren Tribut.
    Der Morgen machte sich mit einem vagen grauen Schein durch das runde Fenster am Ende des Dachbodens bemerkbar. Der Schmutz auf dem Glas ließ erahnen, dass es jahrzehntelang nicht gereinigt worden war. Ich wusste genau, wie eine Dienerin an die Reinigung

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