Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Dorfältesten glauben, dass du sein Kind bist, wird dieses ganze Land dir gehören, wenn er stirbt. Sie werden dich mit einem passenden Jungen verheiraten, und ich werde nichts haben.«
Welches ganze Land, dachte ich. Zwei Reisfelder und einige halb verkümmerte Bananenstauden? Mit den Augen der Steinküste betrachtet war ich nahe daran, zu fragen, wer das schon haben möchte. Aber die Antwort war deutlich genug: Shar. Die Frau, die meinen Vater wusch und ihm zu essen gab, sodass er am Leben blieb, auch wenn kein klarer Gedanke mehr in ihm war.
Liebe? Oder Erbschaft?
In der Geschichte der Steinküste waren Kriege um weniger geführt worden.
Ich begriff endlich meinen Irrtum. Alles, was ich in der Erinnerung so geliebt hatte, war eine Lüge gewesen. Wäre ich hiergeblieben, wäre ich ebenso hungerbäuchig und krummbeinig geworden wie die Kinder, denen ich begegnet war. Oder ich wäre verheiratet worden, damit sich ein hungriges Maul weniger im Haus aufhielt. Ich hatte viele Jahre hinter den Blausteinmauern voller Sehnsucht nach den verlorenen Dingen zugebracht.
Meine Entführer hatten Recht gehabt. Im Grunde hätte ich dem Faktor auf Knien dafür danken müssen, dass er mich davor bewahrte.
So sanft ich konnte, berührte ich sie am Arm. »Ich will dein Land nicht, Shar. Ich glaubte, ich wäre hier zu H … hause, aber ich habe mich sehr geirrt. D … danke, dass du für Papa sorgst.«
Da füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Dann geh. Behalte ihn so in Erinnerung wie bisher. Vergiss, wie er jetzt ist.«
Ich schulterte meine Haue, die wohl die von Papa gewesen sein musste, als er mit Shar auf den Feldern arbeitete, und ging zur Hütte zurück. Ich klopfte die Erde von der Schneide und wischte sie mit der Hand ab, bevor ich sie an der Tür abstellte. Mein Vater saß blicklos in der Dunkelheit der Hütte. Seine Augen funkelten wie die eines Tieres im Käfig.
Ich ging hinaus, um nach dem Ochsen zu sehen. Ausdauer saß noch immer auf dem Boden. Sein Rücken war von Fliegen bedeckt. Ich stand bei seinem Hals und umarmte ihn. Er schnaubte. Ich konnte es in seinem Bauch rumoren hören.
»Du warst mein Wegweiser in all den Jahren«, flüsterte ich in sein Ohr.
Er war natürlich ein Tier, und doch erschien er mir menschlicher, als Papa es jetzt war.
Ich ging zum Eingang der Hütte zurück, wo meine Seemannstasche lag. Ich besaß sonst nichts, außer den Erinnerungen, die gerade zu Staub zerfielen. Ich kauerte auf den Knien und blickte in die Dunkelheit drinnen. Sein Blick begegnete einen Augenblick dem meinen und glitt dann wieder ins Leere.
»Papa«, sagte ich. »Pinarjee.«
Er zuckte, aber er sah mich nicht an. Fliegen summten, und der Raum roch nach Schweiß und Pisse.
»I … ich liebe dich.« Ich wusste nicht, ob das stimmte. Schließlich hatte er mich verkauft. Was für eine Liebe war das? Aber ich war mit sauberen Bettlaken und gutem Essen und einem geschulten Verstand aufgewachsen. Und Shar mit ihren Existenzängsten? Ich hätte ihr jüngeres Ebenbild werden können, wenn ich geblieben wäre. Frei, aber an dieses Land gekettet durch die Angst, nichts zu besitzen.
Ich besaß jetzt nichts. Nicht einmal einen Namen.
»Papa. Du und Mama, wie habt ihr mich genannt? Sag mir meinen Namen.«
Er schniefte einmal, dann griff er in seinen Dhoti, um sich zu kratzen.
»Sag mir meinen Namen!« Meine Stimme wurde lauter, obgleich ich mich zu beherrschen suchte, um ihn nicht zu erschrecken. Sollte ich nach der langen Reise nicht einmal das in Erfahrung bringen? Das war das eine Stückchen Zuhause, das ich hätte mitnehmen können.
»Sag mir meinen Namen!«, schrie ich.
Er antwortete mit einem wortlosen Aufschrei der Angst und verkroch sich in die hinterste Ecke der Hütte. Obgleich der Abstand zu mir nicht viel größer geworden war, schien er sich dort sicherer zu fühlen. Der Geruch von frischer Pisse umgab mich.
Ich wich zurück und erhob mich. »Es tut mir leid«, murmelte ich.
Als ich mich umwandte, wurde ich erschrocken gewahr, dass Shar mit ihrer Haue hinter mir stand. Ich duckte mich vor dem Schlag zur Seite, bevor ich erkannte, dass sie mich gar nicht angreifen wollte.
»Ich wusste ihn nie.« Ihr Ton war schroff, aber ich konnte das Bedauern heraushören. »Er sprach nur von seiner Mutter. Baida erzählte mir, dass er bereits eine Frau und eine Tochter gehabt hatte.«
»Dann hat niemand je meinen Namen genannt?« Tränen rannen mir jetzt über die Wangen.
»Oh, Mädchen, nein …«
»Nenn mich
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