Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
nicht so!«, rief ich, bevor mir bewusst wurde, dass sie das Wort nicht so meinte, wie ich es gewohnt war.
»Du hast Dämonen in deinem Kopf«, schnappte sie. Ihr Augenblick der Ehrlichkeit verflüchtigte sich angesichts meiner Wut. »Geh jetzt.«
Ich blieb ruhig stehen, als sie die Haue hob. »Was hat er mit dem Geld gemacht?«
»Welches Geld?«
»Er hat mich für den Lohn eines ganzen Lebens verkauft.«
Mit diesen Worten wandte ich mich ab. Ich wusste, dass das ein schlimmer Fluch war, mit dem ich sie belegte. Sie hatte mir nichts gegeben, nichts. Papa noch weniger. Weinend ging ich zur Straße hinaus. Zu Hause war das Ziel meines ganzen bisherigen Lebens gewesen, und ich hatte es verloren, wie meine Vergangenheit zuvor. Jetzt gab es nichts mehr für mich, weder hier noch anderswo.
Meine Tränen rannen voraus. Ich folgte ihnen in die Schwärze meines Herzens und schritt immer weiter, weil es keinen Sinn hatte, stehen zu bleiben.
Über einen Monat lang zog ich nach Westen und hielt mich mit Diebstählen am Leben. Ich hatte nie gelernt, in einem Gewässer oder einem Wald Essbares zu finden, außer wenn Früchte reif an Bäumen oder Büschen hingen. Auf dieser Wanderung tötete ich meinen zweiten Menschen. Es war ein Bandit, der mich zu vergewaltigen versuchte. Aber ich trat ihn zwischen die Beine und erstach ihn mit seinem eigenen Messer. Dann sank ich auf die Knie und erbrach das wenige, das ich im Magen hatte.
Nachher zündete ich zwei kleine Feuer für ihn an und sprach ein paar Worte in der Tradition der Steinküste. Ich wusste nichts Gutes über den verwahrlosten Toten zu sagen, außer dass seine Mutter ihn wohl einst geliebt hatte, deshalb empfahl ich seinen Totengeist ihrem Gedenken. Dann nahm ich sein altes, trockenes Fladenbrot, seine guten Sandalen und das Messer, mit dem ich ihn erstochen hatte, und setzte meinen Weg fort.
Töten war auch beim zweiten Mal nicht leichter, auch wenn ich diesmal einen Grund gehabt hatte, den jeder verstehen würde. Die Tat war so endgültig. Selbst jetzt noch fühle ich nur Bedauern, wenn ich zurückdenke. Mit dem letzten Atemzug eines Menschen ist nichts mehr übrig für Vergebung oder Rache. Papa war ebenso tot gewesen, aber sein Körper hatte es noch nicht begriffen.
Ich wanderte ohne Ziel, setzte nur einen Fuß vor den anderen. Ich vergaß selbst meine Glöckchen. Schließlich schloss ich mich drei Tage lang einem Trio alter Frauen an, die die meiste Zeit kaum ein Wort sagten. Sie trugen bleiche Gewänder und welke Lilien zu Ehren der Göttin, der ich auch bald dienen würde. Sie gingen langsam, doch sie hatten etwas zu essen dabei und schienen die zunehmend belebte Straße zu kennen. Vor allem aber verjagten sie mich nicht, als ich mich ihnen anschloss. Ein paar Stunden später zog ich mein Messer, als uns ein junger Mann zu eingehend in Augenschein nahm. Die älteste der Frauen bedachte mich daraufhin mit einem Lächeln. Damals wusste ich nicht, dass Töten ihr Handwerk und sie in diesem Land eine der Besten darin war.
Als wir am dritten Tag über einen Hügel schritten, lag Kalimpura vor uns. Für mich machte es gar nicht den Eindruck einer Stadt. Ich hatte bisher nur Copper Downs kennengelernt; erst als einen Ort hoher Mauern und ferner Stimmen, dann als Welt der Dächer und Abwasserkanäle und zu guter Letzt als eine Stadt aus grauem Stein und Schiefer und Kupfer, eckigen Fassaden und schmalen Fenstern.
Kalimpura ist, von hier oben auf der Inlandstraße auf dem Fünf-Affen-Berg betrachtet, ein Chaos von Farben und Bögen und silbernen Türmen, gekrönt von den allgegenwärtigen heiligen Donnerstäben Ravs zur Abwehr der Blitzschläge der häufigen Sommergewitter. Doch solche Dinge wusste ich damals noch nicht, als ich mich von Bhopura nach Westen auf den Weg machte.
Damals schritt ich im stetig dichter werdenden Verkehr über den Berg und sah eine Stadt vor mir, die auf den ersten Blick den Eindruck eines gewaltigen Zeltlagers erweckte. Die Kalimpuri bauten ihre Stadt nicht mit Lineal und Senkblei. Hier dominierten die Bögen sich bauschender Seide und die ruhelosen Umrisse im Monsunwind flatternder Gebetsfahnen.
Es war, als hätten die Götter dieses Ortes mehrere Hundert Morgen an Mauern und kostbaren Metallen und Seidenstoffen über die Erde verstreut und dann vergessen, ihr Spielzeug zusammenzubauen.
»Ai«, sagte die älteste Pilgerin, eine tief gebeugte Frau, die an zwei Stöcken ging. Es war das erste Wort, das ich von den dreien hörte.
Ein
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