Der verbotene Fluss
kreuzten eine Bahnlinie, worauf Wilkins nach hinten rief: »Wie Sie sehen, Miss, haben wir hier auch einen Bahnhof, aber die Züge fahren nicht nach Dover. Daher mussten Sie in Dorking aussteigen.«
Kurz hinter dem Bahnhof bogen sie nach rechts ab. Jenseits der Straße lagen ausgedehnte Wälder, die schon begonnen hatten, ihr warmes rotbraunes Herbstkleid anzulegen. In der Ferne war auf einer Anhöhe ein weißes Herrenhaus zu erkennen.
»Wir sind fast da, Miss. Rechts liegen Nicols Field und Beechy Wood, und hinter dem Wald fließt der Mole. Eine hübsche Gegend, zu jeder Jahreszeit. Da drüben auf dem Hügel können Sie Norbury Park sehen. Das Haus ist knapp über hundert Jahre alt.«
Die Crabtree Lane war eine lange, schmale Straße, die von eleganten, frei stehenden Häusern mit großen Gärten gesäumt wurde. Alte Steinmauern, über die sich die ausladenden Äste gewaltiger Bäume wölbten, schirmten die Grundstücke zur Straße hin ab. Eine angenehme Gegend, dachte Charlotte, in der man sich wohlfühlen konnte.
Wilkins bog durch ein Tor auf der rechten Straßenseite, und die Kalesche rollte knirschend über eine kiesbestreute Auffahrt. Charlotte reckte den Hals, um das Haus zu sehen. Als es hinter den Büschen auftauchte, hielt sie den Atem an.
Es war aus Backstein erbaut und überaus stattlich. Der breite, nach vorn gerichtete Giebel war mit schwarz-weißem Fachwerk verziert, und die großzügigen Fenster ließen auf helle Räume hoffen. Am entzückendsten war jedoch der runde Turm, der das Gebäude an einer Ecke flankierte, wodurch es an ein Schloss erinnerte. Links neben dem Haus lag die Remise. Das ganze Haus wurde von hohen Bäumen eingerahmt und sah bezaubernd und sehr englisch aus.
»Herzlich willkommen in Chalk Hill, Miss.« Wilkins nahm ihr die Decke ab und half ihr beim Aussteigen. Während er sich am Gepäckabteil zu schaffen machte, wurde die Haustür von einer Frau in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid geöffnet. Sie trug das grau melierte Haar streng nach hinten frisiert und zu einem Knoten gesteckt. Sie kam nicht heraus, sondern blieb reglos auf der Schwelle stehen und schaute Charlotte entgegen, die eine plötzliche Beklommenheit verspürte. In der Haltung der Frau lag etwas Abweisendes.
Charlotte holte tief Luft. Wenn sie in ihren Jahren als Hauslehrerin eines gelernt hatte, dann, dass sie sich nicht verletzlich zeigen durfte, weder den Herrschaften noch den Schülern oder Dienstboten gegenüber. Wenn man angreifbar war, wurde man auch angegriffen, so einfach war das. Die Menschen spürten das. Sie drückte die Schultern nach hinten und ging langsam auf die Frau zu.
Endlich trat diese einen Schritt vor und senkte kaum merklich den Kopf. »Mrs. Evans, die Haushälterin von Sir Andrew. Sie sind Miss Pauly?« Sie sprach ihren Namen englisch aus, mit einem langen O, daran würde sich Charlotte wohl gewöhnen müssen.
»Ja.«
»Ich hoffe, Sie hatten trotz der Verzögerung eine angenehme Reise.« Sie trat beiseite, um Charlotte hereinzulassen.
»Danke sehr.«
Charlotte schaute sich in der Eingangshalle um und staunte über die erlesene Schönheit der Einrichtung. Die Haustür war mit einem Fenster aus buntem Glas versehen, der schwarz-weiße Fliesenboden makellos. Das Geländer der breiten Treppe, die an der linken Seite in den ersten Stock führte, bestand aus glänzend poliertem honigbraunem Eichenholz. Die mit rotem Stoff bespannten Wände wirkten warm und einladend, und ein großer Spiegel mit goldenem Rahmen ließ den Raum noch großzügiger erscheinen. In diesem Augenblick durchbrach die Sonne die Wolken, traf auf die Scheibe in der Haustür und malte ein buntes Prisma auf den Boden. Charlotte hielt die Luft an, so schön war dieser Anblick.
»Wilkins bringt Ihr Gepäck nach oben. Ich nehme an, Sie möchten einen kleinen Imbiss einnehmen.«
Charlotte verschwieg, dass sie auf offener Straße gegessen hatte.
»Danke, gern.«
Die Haushälterin geleitete sie in einen Flur, der links von der Halle abzweigte und zur Küche und den übrigen Wirtschaftsräumen führte. Mrs. Evans öffnete die Tür eines kleinen Speisezimmers und bot ihr einen Platz an, bevor sie den Raum verließ.
Charlotte hätte gern gefragt, wann sie ihren Arbeitgeber und dessen Tochter kennenlernen würde, doch die Haushälterin war allzu schnell verschwunden, als hätte sie sich gerade einer lästigen, aber notwendigen Aufgabe entledigt. Die Position einer Gouvernante war immer heikel. Sie gehörte nicht zu
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