Der verbotene Fluss
Schülerin kennenzulernen, ein völlig fremdes Kind, mit dem sie von nun an fast den ganzen Tag verbringen, dem sie Lehrerin sein und auch ein wenig die Mutter ersetzen sollte. Sie nahm die Einrichtung – Tafel mit Schwamm und Kreide, zwei Bänke mit Pulten und einen größeren Tisch für die Lehrerin, eine Wandkarte von Großbritannien und eine Weltkarte, ein Regal mit Büchern und anderen Utensilien – nur flüchtig wahr, bevor sie das Kind anschaute, das vor der ersten Bank stand und sie erwartungsvoll ansah.
Emily Clayworth hatte dunkelbraune Haare, deren wilde Locken sich den Bändern und Spangen widersetzten. Sie trug ein hellblaues Kleid mit einer weißen Schürze darüber. Als sie Charlotte anschaute, hielt diese für einen Augenblick die Luft an. Emilys Augen waren blauer als alles, was sie je gesehen hatte. Die langen, schwarzen Wimpern wirkten fast puppenhaft, und das Gesicht war blass und mit zarten Sommersprossen gesprenkelt. Ein ungewöhnliches Kind, das erkannte sie sofort.
»Emily, ich bin Fräulein Charlotte Pauly, deine Gouvernante. Ich werde dich von nun an unterrichten, wie dein Vater es sicher schon mit dir besprochen hat.« Sie trat einen Schritt vor und streckte die Hand aus. »Ich freue mich, dich kennenzulernen.«
Emilys Hand war leicht und kühl, die Berührung zart wie die eines Schmetterlings. »Mich freut es auch, Fräulein Pauly. Soll ich Sie ›Fräulein‹ oder ›Miss‹ nennen?«
Charlotte überlegte kurz. »Was ist dir denn lieber, Emily?«
Das Mädchen schaute sie abwägend an. »Mein Papa hat gesagt, es sei etwas Besonderes, eine ausländische Gouvernante zu haben. Daher ist es wohl gut, wenn ich Sie ›Fräulein‹ nenne, damit alle Leute wissen, dass Sie Deutsche sind.«
»Eine kluge Antwort, Emily.« Charlotte schaute das Hausmädchen an, das an der Tür stehen geblieben war. »Du kannst uns jetzt gern allein lassen.«
Susan knickste. »Sehr wohl, Miss. Sie werden zum Tee gerufen.«
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, meinte Charlotte, bei dem Mädchen eine leichte Unsicherheit zu bemerken. Sie lächelte und bot Emily einen Platz in der Bank an. Dann lehnte sie sich an den Schreibtisch. »Ich werde zunächst Englisch mit dir sprechen, außer natürlich im Deutschunterricht. Das erleichtert uns den Anfang.«
Sie bemerkte den überraschten Blick der Kleinen.
»Was ist denn los?«
Das Mädchen zögerte und schaute zu Boden.
»Du kannst es mir ruhig sagen.«
»Ich habe gehört – von Reverend Morton und auch von Papa und Nanny –, dass Gouvernanten sehr streng sind.«
»Und?«, fragte Charlotte sanft.
Emily schwieg und schaute zur Tür, ob ängstlich oder Hilfe suchend, konnte Charlotte nicht sagen.
»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten«, sagte sie freundlich und machte einen Schritt auf das Mädchen zu.
Emily biss sich auf die Unterlippe. »Ich hatte ein bisschen Angst vor Ihnen. Papa hat gesagt, dass es jetzt ernst wird und dass die Zeit des Spiels vorbei sei. Dass ich jetzt lernen und eine Dame werden muss.«
»Natürlich sollst du viele Dinge lernen und eine Dame werden, aber das muss nicht von heute auf morgen geschehen. Wir werden uns Zeit nehmen, und wenn du dir Mühe gibst und deine Aufgaben ordentlich erledigst, wirst du sicher eine gute Schülerin. Wer hat dich denn bisher unterrichtet?«
»Zuerst Miss Pike. Sie ist nicht mehr bei uns.«
»Was hast du bei ihr gelernt?«
»Lesen, schreiben und rechnen.« Emily zögerte. »Sie sollte mir auch das Klavierspielen beibringen, aber dafür war sie nicht gut genug. Das hat Papa jedenfalls gesagt und sie entlassen. Danach kam Miss Fleming, aber sie war auch nicht lange hier, weil sie keine Fremdsprachen unterrichten konnte. Und dann hat er Sie gefunden. Über eine Agentur in London, hat er erzählt.«
Vermutlich waren es keine ausgebildeten Hauslehrerinnen gewesen; Charlotte hatte gelesen, dass es in England mit der beruflichen Ausbildung nicht so gut bestellt war wie in Deutschland, vor allem in Preußen.
»Papa sagt, eine deutsche Gouvernante sei etwas Besonderes, und er wolle nur das Beste für mich.«
So, wie sich Emily ausdrückte, wirkte sie schüchtern und altklug zugleich.
»Nun, ich kann Klavier spielen und dir Deutsch und Französisch beibringen, dazu natürlich Mathematik, Zeichnen und Handarbeit. Und ich bin zwar streng, aber natürlich auch freundlich, wenn du dich entsprechend verhältst und fleißig arbeitest.«
Das Mädchen sah zu Boden. »Dann freue ich mich,
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