Der verbotene Fluss
»Verzeihung?«
Mr. Ashdown sah sie an, und sie meinte, ein belustigtes Funkeln in seinen Augen zu lesen.
»Sir Andrew hat zugestimmt, dass ich Sie und Emily beim nächsten Besuch in Mickleham begleite.«
»Natürlich, gern. Die Mortons sind reizende Leute und Emily sehr zugetan. Sie möchte Ihnen sicher die Kaninchen vorstellen, mit denen sie dort zu spielen pflegt.«
»Sie sehen, Mr. Ashdown, die Vergnügungen des Landlebens sind unerschöpflich«, warf Sir Andrew scherzhaft ein, doch Charlotte bemerkte in seinen Worten einen spöttischen Unterton, als wollte er eine Komplizenschaft mit dem Besucher aus der Hauptstadt herstellen.
»Nun, wenn man seine Tage in einer stinkenden, nebligen Großstadt wie London zubringt, in der man bei abendlichen Spaziergängen fürchten muss, in einen Fluss zu fallen, der mehr Unrat als Wasser enthält, gewinnen ein Ort wie Dorking und ein hübsches Gewässer wie der Mole durchaus an Reiz«, erwiderte Mr. Ashdown, und Charlotte spürte ein warmes Gefühl in der Brust.
Sir Andrew schien ihn nicht zu verstehen. »Als Abgeordneter diene ich natürlich meinem Wahlkreis, muss aber zugeben, dass ich der Sitzungspause im Sommer stets mit Grauen entgegensehe. Das Leben in London ist so viel anregender als auf dem Land.«
»Gewiss hat London viel zu bieten, wenn man sich diese Zerstreuungen leisten kann«, erwiderte Mr. Ashdown. Er schien sich ein Vergnügen daraus zu machen, Sir Andrew zu widersprechen. »Menschen wie Sie und ich haben das große Glück, meist den angenehmen Seiten der Metropole zu begegnen. Gepflegte Restaurants, Theater, Ausstellungen – es gibt aber auch Gegenden, in denen Sie sich auf einem fremden Planeten wähnen würden.«
»Ach ja?«, fragte Sir Andrew ironisch. »Und Sie kennen sich dort aus?«
»Ein wenig«, entgegnete Mr. Ashdown gelassen. »Ich bin nicht wählerisch, was meinen abendlichen Zeitvertreib angeht. Die Music Halls im East End können sehr unterhaltsam sein, und die Qualität der Sänger und Komödianten ist nicht zu unterschätzen. In Shoreditch habe ich vor Jahren einen ausgezeichneten Travestie-Künstler gesehen. Ein Herr im Publikum merkte erst, worauf er sich eingelassen hatte, als er der Dame Blumen überreichte und beim nachfolgenden Kuss die Bartstoppeln spürte.«
Charlotte lachte kurz auf und schaute dann errötend auf ihren Teller. Susan kam herein, räumte Suppentassen und Terrine ab und servierte kaltes Roastbeef mit Röstkartoffeln.
»Verzeihung.« Mr. Ashdown sah Charlotte leicht beschämt an. »Ich wollte die Gefühle einer Dame nicht verletzen. Sie waren so still, dass ich Ihre Anwesenheit einen Moment lang vergessen habe.«
»Sie haben mich nicht verletzt«, sagte sie rasch. »Ich kenne London nicht und würde gern mehr darüber hören.«
»Gewiss hat Mr. Ashdown uns auch Anekdoten zu bieten, die dem empfindsamen Gemüt einer Dame angemessener sind.«
Er kann also auch sarkastisch sein, dachte sie erstaunt und fragte sich zugleich, wie viel Überwindung es Sir Andrew gekostet haben mochte, die Gouvernante seiner Tochter als Dame zu bezeichnen.
Mr. Ashdown gab daraufhin einige amüsante Geschichten zum Besten, und die Spannung, die in der Luft gelegen hatte, löste sich auf.
Nach dem Essen zogen sich die Herren zum Rauchen zurück, doch vorher wandte sich Mr. Ashdown noch einmal an Charlotte. »Sollte es heute Nacht zu einem Zwischenfall kommen, möchte ich sofort verständigt werden.«
»Selbstverständlich.«
Sir Andrew nickte ihr zu und führte seinen Gast in die Bibliothek.
Charlotte schaute den beiden Männern nach. Es war faszinierend gewesen, sie bei Tisch zu beobachten. Die Unterhaltung hatte einem Gefecht geglichen, und sie fragte sich, was der Preis in diesem Wettstreit sein mochte.
Bevor Charlotte in den Turm ging, schaute sie noch einmal bei Emily vorbei. Das Mädchen schlief. Nora hatte für diese Nacht ihr altes Zimmer nebenan bezogen. Charlotte klopfte, und das Kindermädchen bat sie herein.
»Ich werde dich nicht lange stören, Nora.«
»Sie stören nicht, Miss. Bitte.« Sie deutete auf einen Stuhl am Fenster.
Charlotte setzte sich und schaute sie freundlich an.
»Hat Mr. Ashdown mit dir gesprochen?«
Nora blickte auf ihre Hände. »Ja.«
»Ich hoffe, es ist gut verlaufen.«
»Er hat viele Fragen gestellt. Dabei kenne ich ihn gar nicht.« Ihre Stimme klang überraschend heftig.
»Er ist hier, um Emily zu helfen – hat er das nicht erwähnt?«
»Doch. Aber – ich mag das nicht.«
»Was
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