Der verbotene Fluss
Sintflut nicht mehr stand. Er konnte nur hoffen, dass Dr. Pearsons Praxis gut geheizt war. Wenn nicht, musste er vermutlich doch noch die Dienste des Apothekers in Anspruch nehmen.
Man hatte Tom einige Minuten warten lassen, die er nutzte, um sich am Kaminfeuer des Wartezimmers aufzuwärmen. Dr. Pearson, den er auf Mitte fünfzig schätzte, war ein schlanker, grauhaariger Mann mit scharfen Gesichtszügen. Er saß ihm gegenüber und betrachtete ihn mit höflichem Interesse.
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Ashdown? Ich nehme an, Sie sind neu in der Stadt.«
Tom antwortete ohne Umschweife. »Ich komme aus London und möchte mit Ihnen über Emily Clayworth sprechen.«
Dr. Pearson zog überrascht die Augenbrauen hoch. Sein Blick war ebenso scharf wie seine Züge. »Emily Clayworth?«
»Ja. War sie Ihre Patientin?«
Der Arzt nickte. »In der Tat.«
»Darf ich fragen, seit wann die Familie Sie nicht mehr konsultiert?«
»Selbstverständlich.« Dr. Pearson klappte einen hölzernen Kar teikasten auf und zog nach einigem Suchen eine Karte heraus.
»Seit dem 29. November 1889.« Er räumte die Karte wieder ein und klappte den Deckel zu, bevor er Tom anschaute. »Sie wissen hoffentlich, dass ich Ihnen keinerlei Auskunft über meine Patienten geben darf. Das gebietet die Schweigepflicht.«
»Dessen bin ich mir bewusst.« Tom erwiderte den Blick des Arztes, bis er einen Hauch von Ungeduld an ihm bemerkte.
»Darf ich fragen, in welcher Beziehung Sie zu dem Mädchen stehen?«
»Ich arbeite als Journalist. Aber keine Sorge, in dieser Eigenschaft bin ich nicht zu Ihnen gekommen.« Er überlegte, wie viel er preisgeben konnte, um dennoch etwas von diesem verschlossenen Mann zu erfahren.
»Ist Emily wieder krank?«
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Tom. Je weniger er sagte, desto gesprächiger würde sein Gegenüber werden.
»Hat man einen Arzt hinzugezogen?«
»Nein. Es ist keine Krankheit im herkömmlichen Sinne, Dr. Pearson, nichts, das mit Umschlägen, Tropfen oder Salben zu behandeln wäre. Diesmal scheint ihre Seele krank zu sein.«
Der Arzt wandte sich ruckartig ab, doch Tom hatte das Entsetzen in seinem Blick gesehen.
»Ihre Seele? Sprechen Sie von einer Geisteskrankheit?«
»Sie sieht Geister, in der Tat.« Tom schaute Dr. Pearson herausfordernd an.
Der Arzt lächelte spöttisch. »Das ist nicht Ihr Ernst, oder? Entweder handelt es sich um einen geschmacklosen Scherz, oder Sie sind einer dieser Spiritisten, die ich als Wissenschaftler nicht ernst nehmen kann.«
»Was wäre, wenn ich Ihnen sagte, dass weder das eine noch das andere zutrifft? Meine Bemerkung mag unangebracht gewesen sein, doch das war nicht meine Absicht. Ich gehöre zu einer Gruppe von Menschen, die sich die wissenschaftliche Erforschung gewisser Phänomene –«
Dr. Pearson brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Sie sprechen von der Society for Psychical Research?«
»Ja.«
Der Arzt zögerte. »Nun, das ist eine heikle Sache. Ich kenne Lodge aus meiner Londoner Zeit – ein anständiger Kerl und kluger Kopf. Allerdings verstehe ich nicht, welches Interesse diese Gesellschaft an der kleinen Emily Clayworth haben sollte.«
»Nun, sie gibt an, mit ihrer verstorbenen Mutter in Verbindung zu stehen. Das hat ihren Vater in Sorge versetzt, und er hat Professor Sidgwick um Unterstützung gebeten.«
Der Arzt nahm eine Pfeife aus einem Messingaschenbecher, klopfte sie sorgfältig aus und stopfte sie schweigend. Dann zündete er sie umständlich an und paffte, bevor er Tom wieder anschaute.
»Und Sie sollen herausfinden, ob das Mädchen tatsächlich vom Geist seiner toten Mutter heimgesucht wird? Das ist unerhört.« Er klang jedoch nicht wütend, sondern bedrückt.
»Ich möchte Sie bitten, diese Angelegenheit vertraulich zu behandeln, auch wenn es sich nicht um eine medizinische Konsultation handelt«, sagte Tom. »Sir Andrew möchte vermeiden, dass sein Ruf und der seiner Tochter Schaden nehmen. Ich weiß, dass Sie mir nichts über Emilys Krankengeschichte erzählen können, würde Sie aber bitten, mir einige Fragen über ihre Mutter zu beantworten. Wie ich hörte, hat sie ihre Tochter ungewöhnlich intensiv umsorgt und sich mehr um sie gekümmert, als es bei Damen ihres Standes üblich ist.«
Er bemerkte, wie sich der Blick des Arztes verdüsterte, und erinnerte sich an die Worte des Kindermädchens. Sir Andrew hat ihn nicht mehr im Haus geduldet. Welche Rolle hatte Lady Ellen dabei gespielt?
»In der Tat«, sagte
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