Der verbotene Fluss
etwas zu erledigen. Und nimm eine Lampe mit.«
Er brummte vor sich hin, holte eine Lampe aus der Remise und folgte Charlotte zur Hinterseite des Hauses, wo einige moosbewachsene Stufen zu einer Holztür hinunterführten. Sie war rissig, das Holz grau, doch der Schlüssel ließ sich erstaunlich gut drehen.
»Vorsicht, Miss, hier ist es rutschig.«
Er hielt ihr die Tür auf und leuchtete hinein. Es roch feucht und muffig, und Charlotte war froh, dass sie nicht allein gekommen war.
»Zeigen Sie mir die Tür, die vom Keller aus in den Turm führt.«
Wilkins führte sie durch verschiedene Räume, darunter eine Werkstatt und mehrere Vorratskeller, bis sie vor einer Tür stehen blieben. Charlotte drückte die Klinke – sie war abgeschlossen.
»Diese Tür ist immer abgeschlossen. Hier geht keiner rein oder raus.«
»Geben Sie mir bitte die Lampe, Wilkins.« Charlotte leuchtete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Auf dem Boden lagen kleine Erdklumpen verstreut, dazwischen einige trockene braune Herbstblätter. Genau wie auf der Treppe im Turm. Ihr Herz schlug schneller.
»Sehen Sie das? Die Erde ist trocken und liegt sicher schon länger hier. Diese Spuren stammen nicht von uns.«
Der Kutscher kratzte sich am Kopf und zog die Nase hoch. »Da könnten Sie recht haben, Miss. Aber wer …«
»Das wüsste ich auch gern, Wilkins.«
Nach ihrem Erkundungsgang kehrte Charlotte zu Mr. Ashdown ins Wohnzimmer zurück.
»Vorhin habe ich etwas getan, das ich längst hätte tun sollen.«
»Wir denken wieder einmal das Gleiche, nicht wahr?«, fragte er, als sie zu Ende gesprochen hatte.
»Wenn Sie damit meinen, dass es jemanden gibt, der sich Zutritt zum Haus verschafft, ohne Gewalt anzuwenden, der folglich einen Schlüssel besitzt oder von einem Mitglied des Haushalts hereingelassen wird, und dass diese Person Sie vermutlich angegriffen hat, denken wir in der Tat das Gleiche.«
»Sie müssen unbedingt noch einmal mit Nora sprechen«, drängte er. »Wenn überhaupt, wird sie sich Ihnen anvertrauen; ich bin ein Fremder für sie. Sollte auch das nicht fruchten, werde ich Sir Andrew bitten, entsprechend auf sie einzuwirken.«
»Glauben Sie, sie weiß etwas?«
Er nickte. »Niemand ist vertrauter mit Emily als sie. Sie kennt sie besser als ihr eigener Vater. Wenn es ein Geheimnis um Lady Ellens Verschwinden gibt, muss Nora etwas darüber wissen.« Er zögerte. »Ich vermute, sie hat die Person, die im Garten war, mit ihrem Ruf gewarnt.« Er strich geistesabwesend über den Verband und schüttelte den Kopf. »Verflixt, und ich hielt es für eine gute Idee, nach London zu fahren.«
»Jetzt nicht mehr?«
Er zuckte mit einer Schulter. »Um Emilys willen schon. Aber hier geschehen Dinge …« Er verstummte.
»Wir haben noch bis Montag Zeit«, sagte Charlotte rasch. »Ich spreche mit Nora. Dann sehen wir weiter.« Sie warf einen Blick auf seinen Arm. »Was macht die Verletzung?«
»Ach, es geht schon. Es ist nur hinderlich, wenn man alles mit einer Hand verrichten muss. Beispielsweise ein Hemd zuknöpfen. Da wäre ein Kammerdiener durchaus von Nutzen.«
»Sie sollten trotzdem lieber einen Arzt aufsuchen.«
Er schwieg einen Moment lang und sah sie prüfend an. »Wenn Sie meinen.«
»Und ob ich das meine. Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
Ein belustigter Ausdruck trat in sein Gesicht. »Da spricht die Gouvernante. Ich werde brav sein, versprochen.«
»Emily, du darfst spielen gehen. Ich habe kurz mit Nora zu reden und packe dann schon einmal die Sachen zusammen, die ich bis Montag nicht mehr benötige. Danach komme ich zu dir.«
Das Mädchen zögerte, als Charlotte zur Tür des Kinderzimmers ging. »Ich kann Pamela nicht finden. Ich habe sie schon vor dem Frühstück gesucht.«
Die Worte trafen Charlotte unvorbereitet. Sie hatte die Puppe in der Schublade völlig vergessen. Schweren Herzens trat sie zu Emily und strich ihr über den Kopf.
»Heute Nacht ist ein Unglück passiert.«
Das Mädchen sah sie ängstlich an. »Was denn?«
»Pamela ist von der Fensterbank gefallen. Sie … Ihr Kopf ist zerbrochen.«
Emily schaute auf ihre Hände, die wie blasse Sterne in ihrem Schoß lagen. »Ist es schlimm?«
»Ich fürchte schon. Vielleicht können wir ihr einen neuen Kopf machen lassen. In London.«
»Darf ich sie sehen?«
»Komm mit.«
Charlotte trat an die Kommode und holte die Puppe heraus. Der Anblick ließ sie aufs Neue erschaudern.
Emily nahm sie behutsam entgegen und legte ihre
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