Der verbotene Fluss
angesprochen habe, sagte nur das Übliche: armes Kind, gute Mutter. Sie wissen schon.« Er lockerte den Kragen und atmete tief durch.
Charlotte sah ihn besorgt an. »Möchten Sie sich lieber in Ihrem Zimmer hinlegen?«
Er schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mich nachdenken.« Er lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen vor dem Gesicht aneinander und schloss die Augen. Dann sagte er langsam: »Nehmen wir einmal an, Dr. Pearson hätte mit seiner Anschuldigung recht gehabt. Was könnte der Grund für ein so unbegreifliches Verhalten sein?«
»Darüber denke ich auch die ganze Zeit nach«, sagte Charlotte zögernd. »Ich habe so etwas noch nie gehört. Wenn eine Frau ihrem Kind das antut, muss sie zutiefst unglücklich sein. Keine glückliche Mutter würde ihrem eigenen Kind schaden wollen. Doch weshalb könnte sie unglücklich gewesen sein? Vielleicht wegen ihrer Ehe. Möglicherweise kam die Heirat auf der Wunsch der Eltern zustande, oder die Eheleute merkten nach einiger Zeit, dass sie nicht miteinander harmonierten.«
»Das klingt plausibel«, sagte Mr. Ashdown mit geschlossenen Augen. »Sprechen Sie weiter.«
»Eine unglückliche Ehefrau möchte möglichst wenig Zeit in Gegenwart ihres Ehemannes verbringen. Gut, sie hat ein Kind, aber Damen ihrer gesellschaftlichen Position geben die Verantwortung für ihre Kinder gewöhnlich an Kindermädchen und Gouvernanten ab. Dennoch beschließt sie, sich ihrem Kind zu widmen.«
Mr. Ashdown öffnete die Augen und sah sie scharf an. »Das ist gut, sehr gut. Doch sie brauchte eine Entschuldigung, um sich der Gegenwart ihres Mannes und damit dem gesellschaftlichen Leben zu entziehen, ohne dabei ihren guten Ruf zu gefährden.«
»Ja, aber – das heißt noch lange nicht, dass sie ihre Tochter absichtlich krank machen muss. Bis dahin ist es ein gewaltiger Schritt«, wandte Charlotte ein. »Das kann ich nicht logisch erklären.«
Mr. Ashdown hob die Hand. »Wenn es um eine Frau ginge, die normal empfindet und rational denkt, sicher nicht. Aber wenn wir einmal annehmen, dass Lady Ellen nicht rational gedacht hat, sondern ganz darauf konzentriert war, sich ihren Mann, wenn Sie meine Offenheit verzeihen, vom Leibe zu halten, ohne nach außen hin die Ehe zu gefährden …«
»Das reicht nicht«, beharrte Charlotte. »Wenn wir auch nur im Entferntesten glauben wollen, was Dr. Pearson behauptet, müssen wir es begründen.«
Sie schauten einander an. Im Zimmer war es völlig still.
»Vielleicht war es Zufall«, sagte Mr. Ashdown schließlich. »Angenommen, Emily wurde eines Tages krank, wie es bei allen Kindern vorkommt. Lady Ellen ergriff die Gelegenheit und pflegte ihre Tochter selbst. Das brachte ihr Respekt und Anerkennung ein, und sie konnte gleichzeitig vermeiden, mit ihrem Mann nach London zu reisen oder gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen.«
»Ja«, sagte Charlotte langsam, »ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Und um diesen Zustand zu erhalten, musste das Kind immer wieder krank werden. Emily war für sie das Symbol dieser unglücklichen Ehe, doch gleichzeitig bot sie ihr einen Ausweg. Wer sich um ein krankes Kind kümmert und sich deshalb aus der Gesellschaft zurückzieht, bringt ein Opfer und verdient Respekt.«
Sie konnte nicht mehr still sitzen und ging auf und ab, die Augen gesenkt, eine Hand vor dem Mund, als wollte sie sich am Weitersprechen hindern. Was sie beide laut gedacht hatten, war ungeheuerlich und ergab doch einen fürchterlichen Sinn. Es erklärte vieles, das ihnen bislang unerklärlich erschienen war – Sir Andrews kategorisches Verbot, über Lady Ellen zu sprechen, die enge Bindung der Mutter an das Kind und nicht zuletzt die rapide Genesung des Mädchens, nachdem die Mutter gestorben war.
»Das Kaliumantimonyltartrat«, sagte Mr. Ashdown plötzlich.
Charlotte öffnete das Reisenecessaire und zog die Flasche mit dem Brechweinstein hervor.
Sein Blick war Antwort genug.
31
November 1890, London
Erst als sie die Waterloo Station verlassen hatten und in dem Wagen saßen, der sie zu Sir Andrews Londoner Domizil bringen sollte, konnte Charlotte die Stadt langsam genießen. Im Zug hatten ihre Gedanken unablässig um die Dinge gekreist, die sie von Nora erfahren hatte. Sie konnte an nichts anderes denken. Zwischendurch hatte sie immer wieder zu Mr. Ashdown geschaut, doch er hatte sich nichts anmerken lassen, höfliche Konversation mit Sir Andrew betrieben und mit Emily gescherzt. Am Bahnhof hatte er sich von ihnen verabschiedet und
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