Der verbotene Fluss
Hand über das Loch, als wollte sie es heilen.
»Ich habe es gar nicht gemerkt.«
»Du hast geschlafen.«
»Wieso ist sie hingefallen?«
»Du hast am Fenster gestanden. Vielleicht hast du sie versehentlich angestoßen.«
Emily nickte. »Sie war da. Darum bin ich ans Fenster gegangen.« Die Kleine schaute Charlotte flehend an. »Können wir Pamela mitnehmen und in eine Puppenklinik bringen? Ich habe gehört, dass es so etwas gibt. London ist doch eine große Stadt.«
»Natürlich nehmen wir sie mit«, sagte Charlotte erleichtert, weil sie Tränen befürchtet hatte. Dann wurde ihr bewusst, dass sie Emilys erste Worte kaum beachtet hatte – weil sie schon daran gewöhnt war. Hatte sie sich tatsächlich daran gewöhnt, dass das Mädchen seine tote Mutter sah?
»Was ist eigentlich mit Mr. Ashdown passiert?«
Charlotte zuckte zusammen. »Er ist im Dunkeln gestolpert und hat sich dabei verletzt. Es geht ihm aber schon besser. Freust du dich auf die Reise nach London?«, schob sie rasch nach, um das Thema zu wechseln.
Emily nickte. »Ja …«
»Aber?«
Emily hatte sich aufs Bett gesetzt. Sie hielt den Kopf gesenkt und zupfte mit den Zähnen an ihrer Unterlippe. Charlotte legte ihr vorsichtig zwei Finger unters Kinn und hob es an.
»Was ist los?«
»Ich habe Angst, dass Mama mich nicht findet, wenn ich von hier weggehe.«
Charlotte setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. »Deine Mama ist immer bei dir, wohin du auch gehst. Wenn jemand stirbt, heißt es nicht, dass man allein ist. Wenn du an sie denkst, ist sie bei dir. Auch in London.«
Doch Emily schwieg. Und Charlotte wusste nur zu gut, dass es nicht diese Art von Nähe war, die Emily meinte.
Sie hatte Nora ins Schulzimmer bestellt, weil sie sie auf ihrem eigenen Terrain befragen wollte. »Setz dich.«
Charlotte deutete auf die Schulbank. Nora zögerte, als wüsste sie genau, dass sie dadurch in eine unterlegene Position geriet, doch Charlottes Geduld war zu Ende.
»Nora, ich werde dir noch einmal einige Fragen stellen und erwarte, dass du sie wahrheitsgemäß beantwortest. Ich weiß, wie sehr du an Miss Emily hängst, aber ich habe den Eindruck, dass du etwas zu verbergen hast. Und dieses Geheimnis tut ihr nicht gut.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Miss«, erwiderte das Kindermädchen leise, schaute aber unverwandt auf den Boden, statt Charlottes Blick zu begegnen.
»Da wäre die Tatsache, dass du mir deine Verwandtschaft mit Tilly Burke verschwiegen hast. Und dass du laut gerufen hast, als Emily am Fenster geschlafwandelt ist, obwohl das, wie du nur zu gut weißt, sehr gefährlich sein kann. Du bist schon lange in dieser Familie und hast Emilys Mutter –« bei diesem Wort schaute Nora ruckartig auf – »gut gekannt. Daher bin ich davon überzeugt, dass du mehr über sie und ihren Tod weißt, als du mir bisher erzählt hast. Ich muss jetzt alles erfahren, Nora, es geht um Emilys Leben.«
Charlotte stützte sich auf ihr Pult, die Augen fest auf Nora gerichtet, die schweigend vor ihr saß. Dann griff sie in ihre Rocktasche.
»Das hier habe ich in meinem Zimmer gefunden, dem Zimmer, das Lady Ellen vor langer Zeit bewohnt hat.« Sie stellte die Flasche mit dem Brechmittel vor Nora hin. »Weißt du, was das ist?«
»Nein, Miss.«
Charlotte sah, wie das Kindermädchen mühsam schluckte. »Das glaube ich dir nicht. Es ist Kaliumantimonyltartrat, besser bekannt als Brechweinstein. Was hatte es unter den Bodendielen in meinem Zimmer zu suchen?«
Nora presste heftig die Zähne aufeinander. »Ich weiß es nicht.«
Charlottes Hand fuhr mit solcher Wucht auf die Tischplatte nieder, dass Nora zusammenzuckte.
»Du hast mir erzählt, Sir Andrew habe nicht gewollt, dass Dr. Pearson Emily weiter behandelte. Ich bin mir sicher, dass du mehr darüber weißt. Was war der Grund dafür?«
Charlotte musste das Mädchen unbedingt zum Reden bringen. Sie hatte ihr schon einmal gedroht und würde es notfalls wieder tun.
»Du hast das Recht zu schweigen. Aber bedenke, was aus Emily wird. Sie kann das nicht mehr lange durchstehen, sie wird daran zerbrechen. Du kannst ihr helfen, indem du mir alles erzählst. Wenn nicht …«
Sie sah, wie die Schultern des Mädchens zu zucken begannen. Eine Träne tropfte auf das alte Holz des Pultes mit dem eingelassenen Tintenfass.
»Dr. Pearson … Er hat gesagt – sie war es. Sie hat es selbst getan.«
Charlotte wagte kaum zu atmen. »Wer hat was selbst getan?«
Nora hob beinahe trotzig den Kopf
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