Der verbotene Fluss
aus Emily werden? Sie holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu atmen, bis sich das Zittern endlich gelegt hatte.
Charlotte blieb noch für eine Weile mit hängendem Kopf sitzen, bis sie sich so weit gesammelt hatte, dass sie aufstehen und sich säubern konnte. Langsam tauchte sie die Hände in die Schüssel und sah zu, wie sich zarte, rote Schleier im Wasser ausbreiteten. Als sie die Hände abtrocknete und an sich hinuntersah, entdeckte sie, dass auch ihr Kleid an Brust, Rock und Ärmeln voller Blut war. Sie zog sich aus und hängte es über einen Stuhl. Hoffentlich würde es den Hausmädchen gelingen, die Flecken zu entfernen.
Was war das für ein Unsinn?, dachte sie entsetzt. Sie sorgte sich um Flecken im Kleid, nachdem jemand versucht hatte, Mr. Ashdown zu töten! Der Gedanke war ungeheuerlich, doch sie glaubte nicht eine Minute an Sir Andrews Theorie von dem fremden Herumtreiber im Wald. Die Person hatte ihm unmittelbar hinter dem Tor aufgelauert, als hätte sie gewusst, dass er dorthin laufen würde. Dann erinnerte sie sich an seine Worte: Ich glaube, der Angreifer war eine Frau .
Das hatte er Sir Andrew gegenüber nicht erwähnt, vielleicht weil er ahnte, dass dieser es empört als Hirngespinst abtun würde. Er hatte sich bereits eine Geschichte zurechtgelegt, mit deren Hilfe seine Familie unbehelligt bleiben würde. Die Geschichte von einem Fremden, der sich zufällig in der Gegend herumtrieb, womöglich einbrechen wollte und sich dabei gestört gefühlt hatte. Doch selbst ohne Mr. Ashdowns Bemerkung hätte Charlotte gewusst, dass nichts von alledem ein Zufall war, dass das Tor in der Mauer eine ebenso große Bedeutung besaß wie der Wald und Tilly Burke, wie der Fluss und die Geister, die angeblich dort umgingen.
30
Charlotte stand früh auf, da sie ohnehin nicht mehr schlafen konnte. Sie hoffte inständig, dass Sir Andrew oder Mr. Ashdown ihre Meinung über Nacht geändert hatten. Es erschien ihr undenkbar, dass Mr. Ashdown abreisen und das Leben in Chalk Hill unverändert weitergehen sollte – nicht nach allem, was geschehen war. Und doch hatte es sich angehört, als wäre genau das unvermeidlich.
Es war dunkel, und das trübe Wetter ließ vermuten, dass der Tag kaum heller werden würde. Die kahlen Äste glänzten schwarz vor Nässe, und zwischen den Baumkronen hingen Nebelfetzen. Im Zimmer war es kalt, im Kamin lag kein Feuerholz mehr. Sie würde Susan Bescheid geben müssen.
Charlotte wollte sich waschen, doch das Wasser leuchtete wie Roséwein im weißen Porzellan. Sie konnte den Anblick nicht ertragen und wandte sich ab. Dann fiel ihr Blick auf das Kleid, das sie über die Stuhllehne geworfen hatte. Die getrockneten Flecken sahen aus wie Rost.
Sie zog sich an, griff nach dem verschmutzten Kleid und eilte nach unten in die Küche. Hier war es warm und roch wunderbar nach Kaffee und frisch gebackenem Brot.
»Susan, das Kleid muss gereinigt werden.«
Das Hausmädchen schaute sie überrascht an. Hatte sie zu schroff geklungen?
»Es ist Blut. Ich hoffe, die Flecken lassen sich entfernen. Und die Waschschüssel in meinem Zimmer …« Sie atmete tief durch.
Die Köchin stemmte die Hände in die Hüften. »Sie sollten etwas essen und einen schönen starken Tee trinken. Sie sehen mitgenommen aus.«
In diesem Augenblick kam Mrs. Evans herein. »Guten Morgen, Miss Pauly.«
»Sind die Herren schon auf?«
»Ja. Sie sitzen beim Frühstück. Sie sollen bitte dazukommen.«
»Danke.«
Charlotte spürte die Blicke der drei Frauen, als sie die anheimelnde Küche verließ. Vor der Tür zum Speisezimmer schloss sie für einen Moment die Augen, klopfte dann und trat ein.
Sir Andrew erhob sich leicht von seinem Stuhl, doch ihr erster Blick galt Mr. Ashdown. Er sah aus, als gehörte er ins Bett, hielt sich aber mit großer Disziplin aufrecht.
»Guten Morgen.« Charlotte blieb zögernd vor dem Tisch stehen.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte Sir Andrew.
»Wie geht es Ihnen, Mr. Ashdown?«
Er stellte seine Tasse ab und lächelte. »Unkraut vergeht nicht. Es ging mir schon besser, aber ein starker Kaffee wirkt Wunder. Eigentlich bevorzuge ich Earl Grey, aber in Notfällen –«
»Mr. Ashdown möchte uns einen Vorschlag unterbreiten«, fiel ihm Sir Andrew kühl ins Wort.
Charlotte bemerkte das belustigte Funkeln der dunklen Augen, das nur ihr zu gelten schien.
»Gewiss. In einer Situation wie dieser sind meine Vorlieben bei Heißgetränken ganz und gar zweitrangig.«
Sie musste ein Lächeln
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