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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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Tage später erhielt sie einen Brief, in dem man ihr mitteilte, ihr Sohn, der im Norden Englands als Ingenieur in einer Fabrik arbeitete, sei bei einer Explosion gestorben, die insgesamt fünf Menschenleben gefordert habe. Die Mutter bestand darauf, die genaue Uhrzeit zu erfahren, und stellte fest, dass sich das Unglück in ebenjenem Moment ereignet hatte, in dem sie die Vision erlebte.
    Tom hatte oft an diesen Nachmittag denken müssen, wobei sich in seiner Erinnerung der köstliche Geschmack der Kirschen und die Bauchschmerzen mit der sonderbaren Geschichte der alten Frau verbanden. Damals erschien es ihm vollkommen glaubhaft und schlüssig, dass der Sohn auf eine Weise von ihr Abschied genommen hatte, die sich dem Verstand entzog. Als er älter wurde, hatte er diese Überzeugung jedoch verloren. Zu unwahrscheinlich erschien das Ganze, zu melodramatisch.
    Nun wird die Angelegenheit jedoch komplizierter: Meine liebe Sarah ist nämlich in Sorge um ihre Schwester, die vor einiger Zeit ihren Verlobten bei einem Unfall verloren hat und nun hofft, über diesen Belvoir oder wie der Mann auch immer heißen mag, Verbindung zu dem Toten aufzunehmen. Sie setzt große Erwartungen in ihn und steigert sich in diese Geschichte hinein, was auch mich beunruhigt. Dein gesunder Menschenverstand wäre uns deshalb sehr willkommen.
    Tom vermochte nicht weiterzulesen, da sich ein Schleier über seine Augen gelegt hatte. Zu gut erinnerte er sich an den Tag vor sieben Monaten, an dem er den gleichen Weg eingeschlagen hatte wie die Schwägerin seines Freundes.
    Als Lucy starb, war etwas in ihm zerbrochen, und damit auch die skeptische Einstellung, mit der er Fragen nach Jenseits und Geisterglauben stets begegnet war. Anfangs war sie im Haus so gegenwärtig gewesen, dass er meinte, sie berühren zu können. Er hörte ihre Schritte und ihre Stimme, roch ihren Duft und glaubte, ihren Rocksaum um eine Türkante schwingen zu sehen. Nachts wachte er auf und tastete auf ihre Seite, weil er ihren Atem gehört hatte, und schlief dann wochenlang auf dem schmalen Sofa im Arbeitszimmer, um diese Vorstellungen zu vertreiben.
    Seine Verzweiflung war so groß gewesen, dass er eines Abends ein Medium in Islington aufgesucht hatte. Die Frau war nicht unbekannt, er hatte in der Zeitung über sie gelesen und die Artikel hinreichend seriös gefunden. Die Séance war jedoch entsetzlich.
    Tom hatte die Anweisung erhalten, einige Dinge von Lucy mitzubringen, durch die das Medium Verbindung zu ihr aufnehmen wollte – einen Handschuh, eine Bürste und eine Halskette. Die Frau befingerte die Gegenstände ausgiebig, wobei ihn schon ein leiser Zorn überkam. Danach schien sie in eine Trance zu versinken und begann mit einer seltsam hohen Stimme zu sprechen, die keinerlei Ähnlichkeit mit der seiner verstorbenen Frau aufwies. Sie sandte ihm vermeintliche Botschaften, die so allgemein gehalten waren, dass jeder darauf gekommen wäre. Es brauchte keine übernatürliche Begabung, um zu erkennen, dass ihr Mann um sie trauerte, und so ließ sie den vermeintlichen Geist flehen, Tom möge neuen Lebensmut fassen.
    Die ganze Vorstellung war billig und unerträglich gewesen, und er schämte sich, wenn er daran dachte, obwohl niemand je von diesem Besuch erfahren hatte.
    Nachdenklich griff Tom noch einmal zu Johns Brief und las ihn ein zweites Mal. Er wusste selbst, dass er zu oft allein war und in den vergangenen Monaten manchen Freund vor den Kopf gestoßen hatte. Er faltete das Blatt zusammen und steckte es zurück in den Umschlag. Seine Entscheidung war gefallen.

4
    September 1890, Chalk Hill
    Es war eine seltsame Teerunde. Charlotte saß mit Nora und Emily im Speisezimmer, wo der Tisch mit edlem Porzellan gedeckt war. Der Raum war wunderschön eingerichtet. Die zarten Blumenmuster auf den Vorhängen und Polstern der Möbel verrieten eine weibliche Hand, vermutlich die der verstorbenen Dame des Hauses. Ein Hausmädchen, das sich als Millie vorstellte, servierte dünne Sandwiches mit Gurke und kleine Teekuchen mit Rahm und Erdbeermarmelade. Bevor sich Emily etwas nahm, schaute sie Nora fragend an.
    »Ja, aber nicht zu viel«, sagte das Kindermädchen und versuchte gar nicht erst, Charlotte ins Gespräch einzubeziehen. Verhielt sie sich einfach taktlos, oder war es ein echter Affront gegen eine Frau, die sie als Konkurrenz betrachtete – um die Zuneigung des Kindes und ihre Stellung im Haus?
    »Bist du krank gewesen?«, fragte sie das Mädchen, ohne Nora anzusehen.
    Emily

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