Der verbotene Fluss
dass Sie gekommen sind.« Ihre Stimme war so leise, dass Charlotte sie kaum verstehen konnte. Ihr fiel noch etwas ein.
»Du hast vorhin eine Nanny erwähnt. War das dein Kindermädchen?«
Emily sah sie verwundert an. »Sie ist mein Kindermädchen, schon seit meiner Geburt.«
Damit hatte Charlotte nicht gerechnet. Gewöhnlich verließ das Kindermädchen das Haus, bevor die Gouvernante ihren Dienst antrat – eine bedeutsame Trennung, mit der sich die Schüler von ihrer frühen Kinderzeit, dem unbeschwerten Spiel und – wenn es um englische Jungen ging – auch vom Elternhaus selbst verabschiedeten. »Und sie lebt noch hier bei euch?«
Emily nickte. »Ja, weil Mama gestorben ist. Papa hielt es für besser, damit ich nicht so viel allein bin. Also durfte Nanny bleiben. Aber sie hat ihr Zimmer nicht mehr neben meinem. Ich bin schon groß und muss allein schlafen.«
»Ich verstehe.« Charlotte beschloss, nicht weiter zu fragen; sie wollte das Mädchen nicht gleich am ersten Tag aushorchen.
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. »Herein.«
Eine junge Frau mit rundem Gesicht und blonden, krausen Haaren trat ein. »Ich bin Nora, das Kindermädchen, und hole Miss Emily zum Tee.« In ihrem Ton schwang unverhohlene Feindseligkeit mit.
Was für ein dummes Ding, dachte Charlotte unwillkürlich und schämte sich sofort für den Gedanken. Vermutlich war Nora ein einfaches Mädchen vom Land, und die roten Wangen und die Löckchen, die ihr Gesicht umrahmten, ließen sie zusätzlich unbedarft und schlicht erscheinen. Dennoch, ihr Tonfall war nicht angemessen, denn als Hauslehrerin stand Charlotte in der Rangfolge eindeutig über dem Kindermädchen.
Emily machte einen Schritt auf sie zu, zögerte und drehte sich zu Charlotte um. »Und Fräulein Pauly? Trinkt sie nicht mit uns Tee?«
»Natürlich, Emily.« Das Kindermädchen schaute Charlotte unwillig an. »Kommen Sie bitte mit, Miss.«
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um, nahm Emilys Hand und stieg mit ihr die Treppe hinunter.
Charlotte folgte ihnen seufzend. Mehr konnte sie am Anfang nicht erwarten.
3
Clerkenwell, London, Dezember 1 88 8
Thomas Ashdown legte den Füllfederhalter beiseite und fuhr sich seufzend durch die Haare. Er hatte seit Stunden am Schreibtisch gesessen und geschrieben; nun fühlten sich seine Gliedmaßen steif und die Muskeln schmerzhaft verspannt an. Er stand auf, reckte sich und trat ans Fenster. Es war noch früh, doch lag schon ein winterliches Zwielicht über dem Garten. Er lehnte den Kopf an die Scheibe, wobei ihm die langen, dunklen Haare ins Gesicht fielen. Sein Herz war schwer, denn im letzten Winter hatte Lucy ihn verlassen, zu einer Jahreszeit, die man ohnehin mit Verlust und Ver gänglichkeit verband und die für ihn nun noch schwerer zu ertragen war. Er atmete tief ein und aus, um seine Gefühle zu beherr schen, doch der Drang, sich umzudrehen, war beinahe übermächtig.
Es war mehr als ein Drang; fast kam es ihm vor, als krallte sich eine Faust in seinen Arm und wollte ihn zwingen, hinter sich zu schauen, in die Ecke neben der Tür, wo Lucy oft gesessen und genäht hatte, während er am Schreibtisch arbeitete. Ihre Nähe zueinander war so groß gewesen, dass sie es vorgezogen hatte, in diesem Winkel zu sitzen, nur um bei ihm zu sein. Sie hatten nicht miteinander gesprochen, sondern waren konzentriert ihrer jeweiligen Beschäftigung nachgegangen, im angenehmen Schweigen jener, die keine Worte brauchen, um ihre Verbundenheit zu zeigen.
Seit Lucys Tod überkam ihn bisweilen das Gefühl, sie säße in ebenjener Ecke, und er müsste sich nur rasch genug umdrehen, um sie zu sehen. In solchen Augenblicken verharrte er wie gelähmt am Schreibtisch oder stand wie jetzt am Fenster, spürte sein Herz heftig schlagen und seinen Rücken brennen, als träfe ihn ihr flehender Blick. Dreh dich um, Tom – warum schaust du mich nicht an?, schien sie zu fragen.
Weil du nicht da bist, Lucy, antwortete er in Gedanken.
Wie kannst du das sagen? Ich sehe dich doch! Du stehst am Fenster, wie du es immer getan hast, wenn du nicht weiterwusstest bei deiner Arbeit oder nach der richtigen Formulierung gesucht hast. Dreh dich einfach um und sieh mich an, das ist doch nicht schwer.
Die Verlockung war so groß, dass er die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht zu schreien. Er ballte die Hände zu Fäusten, schluckte und ging zur Tür, ohne in die bewusste Ecke zu schauen. Dann klingelte er nach dem Hausmädchen.
Die Minute, die Daisy brauchte,
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