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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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ehe sie bei ihm war, kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Sie trat ein und knickste. »Sie wünschen, Sir?«
    »Eine Kanne Tee, bitte.«
    »Sehr wohl, Sir.«
    Als sie die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, schaute er endlich in die Ecke. Dort stand der Sessel, daneben das Tischchen mit der Lampe und der Ablage für den Handarbeitskorb.
    Der Sessel war leer. Natürlich.
    Tom trat wieder an den Schreibtisch und las, was er an diesem Tag geschrieben hatte. Eine Theaterkritik und zwei weitere Artikel für Tageszeitungen. Eigentlich arbeitete er auch an einem Buch, das er vor zweieinhalb Jahren begonnen und noch immer nicht vollendet hatte.
    Warum war er nur auf Shakespeare verfallen, bei dem ihn alles an Lucy erinnerte? Sie waren so oft gemeinsam ins Theater gegangen oder hatten Vorträge gehört. Zu allem Überfluss schrieb er auch noch über Shakespeares Frauenfiguren und hörte bei jedem Satz, den er zu Papier brachte, Lucys Stimme – scharfsinnig und spöttisch. »Ophelia ist zu schwach, Tom, siehst du das nicht? Ich an ihrer Stelle würde Hamlet zur Rede stellen und ihm die Marotten austreiben, statt mich in mein Schicksal zu fügen.« So war sie gewesen – geradeheraus, energisch, witzig. Keine Ophelia, eher eine Beatrice.
    Ihm wurde die Kehle eng, und als Daisy den Tee brachte, nickte er nur. Er wollte sie gleich wieder hinausschicken, doch sie griff in die Schürzentasche und hielt ihm einen Umschlag hin. »Vorhin ist ein Brief für Sie gekommen, Sir.« Dann verließ sie leise den Raum.
    Der Tee verströmte einen aromatischen Duft, der das ganze Zimmer erfüllte. Tom goss sich eine Tasse ein, gab einen Hauch Zucker dazu und setzte sich mit dem Brief in einen Ohrensessel am Fenster.
    Die Zeilen stammten von John Hoskins, einem alten Studienfreund aus Oxford.
    Mein lieber Ashdown,
    ich hoffe, du wirst mir meine Einmischung verzeihen, aber ich kann nicht länger mit ansehen, wie du dich vor der Welt und deinen Freunden verkriechst. Wir alle sind in Gedanken bei dir und wünschen daher umso mehr, dich wieder in unserer Mitte begrüßen zu können – als ebenso unerbittlichen wie unterhaltsamen Theaterkritiker und als Freund.
    Meine liebe Sarah ist ganz meiner Meinung und möchte dich in den nächsten Wochen einmal zu uns einladen, gern für ein verlängertes Wochenende, damit du endlich aus deiner dunklen Studierstube herauskommst. Bei uns in Oxford wirst du alte Bekannte treffen, und Sarah hat schon ein umfangreiches Programm für dich ausgearbeitet – was sich notfalls auch zusammenstreichen lässt, wenn dir der Sinn nicht nach Ausstellungen und Vorträgen, sondern eher nach strammen Spaziergängen und einer Einkehr im Pub steht.
    Tom überflog die nächsten Absätze, die Neuigkeiten über gemeinsame Bekannte enthielten, und stutzte dann.
    Denk nur, Sarahs Schwester Emma, die du bei uns kennengelernt hast, ist unter die Spiritisten gegangen. Sie hat vor Kurzem in London eine Séance besucht und war ganz beeindruckt von dem Medium, das sie dort erlebt hat. Angeblich konnte der Mann Verbindung zu Geistern aufnehmen, die ihm die erstaunlichsten Dinge übermittelten. Ich selbst bin ein großer Skeptiker, aber Sarah ist tatsächlich versucht, sie einmal zu einer Séance zu begleiten. Ich habe versucht, es ihr auszureden, indem ich ihr sagte, dass ein derartiger Unsinn unter ihrer Würde sei.
    Tom glaubte durchaus an die Erforschbarkeit des menschlichen Geistes, nicht aber an übersinnliche Phänomene oder Geistererscheinungen. Natürlich kannte er Geschichten, nach denen Menschen das Herannahen ihres Todes gespürt hatten oder Uhren stehen geblieben waren, wenn ein Angehöriger diese Welt verließ. Ein Ereignis aus seiner Kindheit hatte sich in diesem Zusammenhang tief in sein Gedächtnis geprägt.
    An einem Sommertag hatte er im Garten seiner Großmutter gesessen und selbst gepflückte Kirschen gegessen. Daran erinnerte er sich genau, weil er es übertrieben fand und später furchtbare Bauchschmerzen bekommen hatte. Plötzlich war eine Freundin seiner Großmutter schreiend durchs Dorf gelaufen und hatte alle in Angst und Schrecken versetzt, weil sie behauptete, ihr Sohn sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er habe, obwohl er doch gar nicht am Ort sei, auf einmal in ihrem Zimmer gestanden und ohne Worte und auf eine Weise, die sie nicht beschreiben konnte, von ihr Abschied genommen. Toms Großmutter hatte versucht, die Freundin zu beruhigen, doch sie ließ sich nicht von ihrer Geschichte abbringen. Zwei

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