Der verbotene Fluss
Legende nach eine Brust weggebrannt hatten, um die Waffen besser handhaben zu können, verschwieg Charlotte geflissentlich.
Emily machte große Augen. »Sie meinen, sie haben richtig gekämpft wie die Männer?«
»Ja. Sie waren sehr wild und stark.«
Das Mädchen wirkte beeindruckt, und Charlotte beschloss, demnächst einige antike Sagen mit ihr zu lesen.
»Und deine Tante kann gut reiten?«
»Ja, sie hat eigene Pferde. Ich war mal mit … Ich war mal bei ihr zu Besuch, und sie hat mich auf einem großen Pony reiten lassen. Das war wunderschön.«
Charlotte hatte das kurze Zögern bemerkt, schwieg aber.
»Und sie kann trinken wie ein Loch«, fügte das Mädchen hin zu und schlug im nächsten Augenblick die Hand vor den Mund.
Charlotte vermochte nur mit Mühe ernst zu bleiben. Gewiss hatte Emily das bei den Dienstboten aufgeschnappt.
»Tut mir leid, das durfte ich nicht sagen«, entschuldigte sich das Mädchen prompt. »Das war nicht nett. Ich soll nicht nachplappern, was andere reden.« Doch ihre Mundwinkel kringelten sich leicht nach oben.
Erstaunlich, wie schnell sie über eine schmerzliche Erinnerung hinweggehen und über etwas anderes lachen konnte, dachte Charlotte und fühlte sich ihrer Schülerin auf einmal sehr nahe. Emilys Tapferkeit beeindruckte sie. Sie schien vieles mit sich allein auszumachen, aber das lag vielleicht daran, dass sie sich niemandem anvertrauen konnte.
Nach diesem Exkurs wandten sie sich dem Unterricht zu, und Charlotte zeigte ihrer Schülerin Blattformen in einem Buch, das sie aus der Bibliothek geholt hatte. Emily musste zeigen, welche sie kannte, und die Namen der Bäume aufschreiben. »Du kannst sie mit den Blättern vergleichen, die wir gesammelt haben.«
Später übten sie das kleine Klavierstück, das sie am Samstag vorspielen wollten, und es gelang recht gut. Emily war aufmerksam und begriff schnell, auch wenn es ihr bisweilen an Geduld fehlte. Dann spürte Charlotte eine innere Unruhe an ihr, die unter der Oberfläche brodelte und sich nur durch ein leichtes Wippen des Fußes oder ein Zupfen an den Haaren äußerte. Schließlich klappte sie den Deckel zu.
»Das geht schon ganz gut. Morgen früh üben wir weiter.«
»Aber erst, wenn Papa fort ist. Er macht morgen Besuche im Wahlkreis und geht später aus dem Haus, hat er gesagt.« Es klang zögerlich, als wüsste Emily nicht genau, womit sich ihr Vater beschäftigte.
»Keine Sorge, wir werden ihn am Samstagabend überraschen«, sagte Charlotte und begann, die Tafel sauber zu wischen.
Sie hatte Emily den Rücken gekehrt, als sie ein leises Zupfen am Ärmel bemerkte. Das Mädchen stand hinter ihr, den Blick wie so oft zu Boden gerichtet.
»Danke.« Es war nur der Hauch eines Flüsterns.
»Wofür?«, fragte Charlotte.
»Für heute Nacht.« Dann wandte Emily den Kopf ab, als wollte sie nicht mehr darauf angesprochen werden.
Zum Glück blieb das Wetter auch nach dem Mittagessen trocken. Wilkins hielt zwei warme Decken bereit, in die sie sich einwickeln konnten, denn in der Kalesche, die zwar ein Dach besaß, vorn und an den Seiten aber offen war, wurde es um diese Jahreszeit schnell empfindlich kühl.
Der Kutscher empfing sie höflich, sprach aber nicht mehr als nötig. Sein Verhalten unterschied sich deutlich von dem freundlichen Geplauder, mit dem er Charlotte auf der Fahrt vom Bahnhof unterhalten hatte.
Sie und Emily hatten eine Strecke ausgewählt und für ihn notiert. Zunächst fuhren sie die Chapel Lane in Richtung Westen, vorbei an Feldern und Wiesen, die von hübschen Steinmauern ein gefasst waren. Sie passierten noch einmal die Ruine der Kapelle und rollten durch die sanfte Herbstlandschaft. Mitunter ließ Charlotte den Kutscher anhalten und Emily einen Baum bestimmen.
»Das macht Spaß«, sagte das Mädchen, als sie nach dem fünf ten Halt mit roten Wangen in die Kalesche stieg. »Da drüben liegt Polesden Lacey. Das sollten Sie sich ansehen, Fräulein Pauly.«
Wilkins bog in einen Feldweg ein, auf dem seine Fahrgäste ziemlich durchgerüttelt wurden.
»Ist eine Abkürzung, Miss!«, rief er über die Schulter. »Sonst müssen wir durch das ganze Dorf und einmal um das Anwesen herumfahren.«
Die Strapazen wurden belohnt, als das Haus vor ihnen auftauchte. Wie so oft in England, war der Begriff »Haus« eine grobe Untertreibung, dachte Charlotte belustigt. Das gelb gestrichene Gebäude war von einer wunderbaren Symmetrie. Zwei Flügel, die in halbrunden Erkern mündeten, umrahmten das Hauptgebäude mit
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