Der verbotene Fluss
Haarebürsten den Albtraum ausgelöst hatte?
»Willst du mir davon erzählen?«
In diesem Augenblick erklangen Schritte vor der Tür.
»Wer ist da?«
Nora steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich dachte, ich …«
»Schon gut, sie hat nur schlecht geträumt«, erklärte Charlotte. »Ich kümmere mich um sie.«
Das Kindermädchen zögerte, nickte und schloss die Tür wieder.
»Willst du mir davon erzählen, Emily?«, wiederholte Charlotte.
Langes Schweigen, so lange, dass sie schon glaubte, das Mädchen sei eingeschlafen. »Sie war da. An meinem Bett.«
»Und das hat dir Angst eingejagt?«
Emily zuckte mit den Schultern. »Ja. Warum, weiß ich nicht. Es kam mir so – so wirklich vor. Als wäre sie hier. Aber sie ist doch tot!«
»Da hast du recht.« Charlotte rückte vorsichtig von der Kleinen fort und stand auf. »Leg dich wieder hin, Emily. Ich schließe das Fenster. Warum hast du es überhaupt aufgemacht? Es stürmt und regnet doch.«
»Ich hab’s nicht aufgemacht«, sagte das Mädchen mit schläfriger Stimme.
»Sicher hast du es vergessen oder dabei schon halb geschlafen«, erwiderte Charlotte begütigend.
»Nein, ganz ehrlich«, murmelte Emily.
Charlotte sperrte das nächtliche Unwetter aus und warf dem Mädchen einen liebevollen Blick zu, bevor sie auch den Vorhang schloss. Sie wollte schon leise zur Tür gehen, als ihr Blick auf den Boden neben dem Bett fiel. Sie bückte sich und befühlte den Teppich. Ein feuchter Fleck. Sie roch an ihrer Hand. Wasser, nur Wasser.
Dann warf sie einen letzten Blick auf das schlafende Mädchen und kehrte in ihren Turm zurück.
8
Am nächsten Morgen beim Frühstück erwähnte Charlotte den Traum nicht. Sie beobachtete ihre Schülerin allerdings sehr genau, doch Emily ließ sich nichts anmerken. Ob sie in der Nacht gar nicht richtig wach gewesen war und alles vergessen hatte? Es konnte natürlich auch sein, dass sie nicht über den Vorfall sprechen wollte, was Charlotte respektieren musste.
Sie hatte lange wach gelegen, nachdem sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war. Natürlich kam es vor, dass Kinder schlecht träumten, vor allem, wenn sie einen schweren Verlust erlitten hatten wie Emily, doch einiges war merkwürdig gewesen. Zum einen das geöffnete Fenster. Sie hatte Nora danach gefragt, die entrüstet erklärt hatte, dass sie in einer solchen Nacht nie und nimmer das Fenster öffnen würde, und Charlotte hatte ihr geglaubt. War es Emily selbst gewesen? Das war die einzige Erklärung. Ob sie schlafwandelte? Wenn dem so war, müsste man sie nachts im Auge behalten, damit sie sich nicht auf der Treppe oder an den Fenstern in Gefahr brachte.
Zum anderen war da der feuchte Fleck auf dem Teppich. Hatte es hereingeregnet? Doch die Stelle lag ein gutes Stück vom Fenster entfernt. Vielleicht hatte Emily etwas getrunken und das Glas umgestoßen oder die Hände am Fenster in den Regen gestreckt …
Charlotte riss sich zusammen. Der Unterricht begann in wenigen Minuten, und Emily sollte nicht merken, dass sie sich Sorgen gemacht hatte.
»Der Regen hat aufgehört«, sagte das Mädchen unvermittelt und stellte die Tasse ab.
Das Wetter hatte sich tatsächlich gebessert, eine blasse, milchige Sonne schimmerte durch die Bäume, und es versprach ein angenehmer Tag für die Ausfahrt zu werden.
»Ja, wir haben wohl Glück mit der Kutschfahrt. Im Unterricht werden wir den Ausflug ein wenig vorbereiten«, erklärte Charlotte. »Wir sprechen über das, was wir im Herbst in der Natur sehen, und du erzählst mir etwas über die Gegend. Vielleicht können wir auch später irgendwo Tee trinken.«
Ein Strahlen ging über Emilys Gesicht. »Es gibt eine Teestube in Dorking, die ist sehr hübsch. Da war ich mal mit meiner Tante Maggie. Sie ist Papas Schwester.«
Emilys Wangen hatten sich leicht gerötet, und das Mädchen wirkte ungewohnt lebhaft.
»Kommt sie oft zu Besuch?«
Ein Schatten fiel über Emilys Miene. »Nein. Ich – würde sie gern öfter sehen, aber … Papa und sie hatten Streit.«
»Das tut mir leid. Vielleicht versöhnen sie sich ja wieder. Erzähl doch ein bisschen von ihr.«
Sie standen auf, schoben die Stühle an den Tisch und gingen nach oben ins Schulzimmer.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, sagte Emily: »Sie kann richtig gut reiten. Eine Amazone, hat Papa mal gesagt. Was ist eine Amazone?«
»Das sind weibliche Krieger in der griechischen Sage. Sie konnten hervorragend mit Pfeil und Bogen und Schwert umgehen.« Dass sie sich der
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