Der verbotene Fluss
Tilly Burke gegangen und hatte sie energisch am Oberarm gefasst. Sie geleitete sie zur Tür und schob die alte Frau entschlossen auf den Gehweg hinaus. »Ich will Sie hier nicht mehr sehen«, rief sie ihr noch nach.
Charlotte nahm Emily in Empfang und kehrte mit ihr an den Tisch zurück. Die Blicke der anderen Gäste waren angestrengt auf die Teller und Tassen vor ihnen gerichtet, als wollten sie um keinen Preis neugierig erscheinen.
Charlotte und Emily setzten sich nebeneinander, und die Misses Finch eilten mit Tee und Gebäck herbei, das sie mit besonderer Sorgfalt auf dem Tisch anordneten.
»Sie ist nur eine verrückte alte Frau«, flüsterte Ada Finch. »Sie redet Unsinn und sucht verzweifelt nach Leuten, die ihr zuhören.«
Charlotte nickte dankbar, sagte aber nichts. Sie schenkte dem Mädchen, das noch immer zitterte, Tee ein, gab Milch und Zucker dazu und reichte ihr den Teller mit dem scone . Ihr selbst war der Appetit vergangen, doch wollte sie ein gutes Beispiel abgeben und begann zu essen. Es schmeckte tatsächlich köstlich. Das gar nicht so süße Gebäck verband sich mit der Marmelade und dem Rahm zu einem delikaten Ganzen.
»Iss auch etwas, dann geht es dir gleich besser«, sagte sie tröstend.
Zögernd zerteilte Emily den scone mit dem Messer und bestrich ihn mit Rahm und Marmelade, ließ die Hand aber wieder neben den Teller sinken. »Ich kann nicht.«
»Natürlich kannst du.«
Schließlich biss sie ein winziges Stück ab und dann noch eins, aß, bis das Zittern nachließ und der Tee sie von innen wärmte.
Charlotte wollte unbedingt herausfinden, was sich hinter diesem Zwischenfall verbarg. Sie ahnte, dass ein Geheimnis über Chalk Hill und der Familie Clayworth lag, und konnte das Gefühl nicht ertragen, dass jeder in der Gegend mehr zu wissen schien als sie.
»Wer war die Frau, die dir Angst gemacht hat?«
Emily schaute auf ihren Teller, als läge dort die Antwort bereit. »Sie hat früher – ganz früher – für Mama gearbeitet. Als Kindermädchen. Und auch später noch.«
»Ich verstehe. Wohnt sie hier in der Nähe?«
»Ja. Am Rand von Mickleham. In einem alten Häuschen. Wir haben sie mal besucht. Ich mag sie nicht.«
»Bist du ihr schon öfter begegnet?«
Sie nickte. »Sie läuft immer durch die Straßen und spricht Leute an. Keiner hört ihr zu.«
Charlotte überlegte, ob sie Emilys Verletzlichkeit ausnutzte, wenn sie ihr weitere Fragen stellte. Doch wie sollte sie dem Mädchen helfen, wenn sie nichts über die Geschichte seiner Familie wusste?
»Stimmt es, dass deine Mutter traurig war?«
Emily zuckte nur mit den Schultern.
»Und was hat sie damit gemeint, dass sie zum Fluss gegangen ist?«
Charlotte merkte sofort, dass sie den Bogen überspannt hatte, denn Emily war ganz blass geworden und presste die Lippen aufeinander, als wollte sie die Worte einsperren.
»Gut, lass uns nicht mehr davon sprechen. Möchtest du noch ein bisschen essen? Nein? Dann bezahle ich jetzt, und wir gehen spazieren.«
An der Theke schaute Miss Edith Finch sie besorgt an. »Geht es der Kleinen besser? Wir werden die alte Tilly nicht mehr hereinlassen – sie stiftet nur Unruhe.«
»Sie hat für die Familie von Emilys Mutter gearbeitet?«
»Ja, aber es ist lange her. Sie wurde mit der Zeit immer verwirrter, da konnte man sie nicht länger halten. Die Hamiltons, Lady Ellens Eltern, haben ihrer Tochter und ihrem Mann damals Chalk Hill überlassen und sind der Gesundheit wegen nach Jersey gezogen. Soweit ich weiß, sind sie inzwischen verstorben. Die alte Tilly ist hiergeblieben.«
Charlotte schaute Miss Finch prüfend an.
»Darf ich Sie etwas im Vertrauen fragen?«
»Natürlich, fragen Sie nur, meine Liebe. Sie sind gut zu dem Mädchen, das habe ich gleich gemerkt.«
»Woran ist Lady Ellen gestorben?« Sie sprach leise, damit die anderen Gäste sie nicht hörten. Eigentlich schickte es sich nicht, dass sich die Gouvernante in einer Teestube nach dem Vorleben ihrer Herrschaft erkundigte.
Miss Finch seufzte. »Eine sehr traurige Geschichte. Sie ist im Mole ertrunken.«
9
London, März 1889
Durch das Publikum, das sich mit einigem Abstand im Halbkreis um einen einfachen Holztisch mit Stuhl versammelt hatte, ging ein gespanntes Raunen. Die Spiegel an den Wänden waren mit samtenen Tüchern verhängt und die Vorhänge an den Fenstern geschlossen, um eine angemessene Atmosphäre für die Vorführung zu schaffen. Dadurch entstand eine stickige Wärme im Raum, doch die Gastgeberin hatte
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