Der verbotene Fluss
ein wenig durcheinander«, sagte sie. Vielleicht hatte jemand im Haus Emilys Tränen bemerkt. »Sie hat geweint. Es war aber nichts Schlimmes, wirklich nicht. Ich glaube, es hatte damit zu tun, dass sie am Straßenrand einen toten Igel entdeckt hat«, log Charlotte. »Ich habe versucht, sie zu trösten.«
»Ein toter Igel?«
Sie nickte. »Kinder haben meist ein großes Herz für Tiere und können sie nicht leiden sehen.«
Sir Andrews nächste Frage traf sie völlig unvorbereitet.
»Weshalb sagen Sie mir nicht die Wahrheit?« Sein Blick war eindringlich.
»Verzeihung, was meinen Sie?« Ihr war, als müsste er ihren Herzschlag hören, so laut kam er ihr vor.
»Es gab keinen toten Igel. Ich hab vorhin mit Wilkins gesprochen, er hat nichts dergleichen erwähnt. Er sagte, Emily habe ohne erkennbaren Grund angefangen zu weinen.«
Charlotte atmete tief durch. Dann berichtete sie von der Begegnung mit Tilly Burke.
Sir Andrew betrachtete seine Hände und wirkte äußerlich gelassen, doch sie bemerkte, wie eine Ader an seiner Schläfe pulsierte. Als sie zu Ende gesprochen hatte, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen: »Ich muss dafür sorgen, dass dieses Weib aus der Gegend verschwindet.«
»Sie ist verwirrt und meint es gewiss nicht böse«, warf Charlotte begütigend ein, worauf sein Kopf herumschoss.
»Das ist keine Entschuldigung! Für Menschen wie sie gibt es geschlossene Anstalten.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und verließ den Raum.
Charlotte brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. War um hatte sie ihn überhaupt angelogen?, fragte sie sich. Weil du Emily schützen wolltest, sagte eine leise Stimme in ihrem Inneren. Vor ihrem eigenen Vater? Das war doch verrückt. Aber es war ihr erster spontaner Impuls gewesen, und sie konnte sich für gewöhnlich auf ihren Instinkt verlassen. Sie war erleichtert, dass sich sein Zorn auf Tilly Burke konzentriert hatte – sie selbst war glimpflich davongekommen.
Am späten Nachmittag stand Charlotte in ihrem Zimmer vor dem Kleiderschrank, in den sie ihre Garderobe geräumt hatte. Viele Kleider besaß sie nicht, schon gar keine Abendkleider, und es fiel ihr schwer, überhaupt eines auszuwählen, das dem Anlass angemessen war. Nach einigem Überlegen erschien ihr ein weinrotes Modell mit Ornamenten aus schwarzem Samt passend. Sie holte es aus dem Schrank und strich gedankenverloren über den glatten, glänzenden Stoff.
Die flüchtige Berührung versetzte sie an einen anderen Ort, weit fort von hier, in eine große, wimmelnde Stadt, in der sie für kurze Zeit glücklich gewesen war. Am liebsten hätte sie das Kleid mit ihrem alten Leben dort zurückgelassen, aber die Vernunft hatte gesiegt. Sie würde sich so bald kein derart elegantes Modell mehr leisten können. Also war es zwischen mehreren Lagen Seidenpapier in ihren Koffer gewandert und hatte sie bis hierher begleitet.
Charlotte zog sich aus, wusch sich, strich die Unterröcke glatt und streifte das dunkelrote Kleid über. Sie hatte gelernt, sich ohne Hilfe anzuziehen, auch wenn es ihr bisweilen vorkam, als würden Kleidungsstücke nur für Damen geschneidert, die eine Zofe hatten. Sie kämpfte mit den Haken, Ösen, Bändern und Knöpfen, bis alles richtig saß. Dann löste sie ihr Haar, bürstete es gründlich und frisierte es so, dass es etwas weicher wirkte als tagsüber.
Sie trat vor den Spiegel und war zufrieden mit sich. Zum Glück hatte sie in ihren früheren Stellungen gelernt, sich in Gesellschaft zu bewegen. Die fremde Sprache war ein gewisses Hindernis, doch lernte sie mit jedem Tag dazu; zudem würde man von ihr als Gouvernante nicht allzu viel Konversation verlangen.
Gegen sechs trafen die ersten Kutschen ein. Charlotte hörte, wie die Räder über den Kies rollten. Stimmen erklangen, Licht fiel aus der Eingangstür über den Vorplatz.
Pünktlich um halb sieben schaute Charlotte noch einmal in den Spiegel und begab sich dann nach unten ins Speisezimmer, wo die Hausmädchen eine lange Tafel mit dem besten Porzellan und Kristallglas gedeckt hatten. Die Gäste standen in Gruppen beisammen. Charlotte schaute sich nach Sir Andrew um.
Er war mit Reverend Morton im Gespräch, blickte aber plötzlich auf und sah sie an der Tür stehen. Er entschuldigte sich und kam auf sie zu, wobei ein erstaunter Blick über sein Gesicht huschte.
»Guten Abend, Fräulein Pauly.« Er umfasste leicht ihren Unterarm und führte sie zum Reverend, der sie wie eine alte Bekannte begrüßte.
»Nun, dann habe ich mir
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