Der verbotene Fluss
wohl zielsicher den einzigen Gast im Raum ausgesucht, dem Sie bereits begegnet sind«, sagte Sir Andrew amüsiert. »Auf diese Weise können Sie Ihre Bekanntschaft gleich erneuern.«
»Ich hoffe, Sie hatten inzwischen Gelegenheit, unsere schöne Gegend besser kennenzulernen«, sagte der Reverend in herzlichem Ton. »Die Sehenswürdigkeiten von Westhumble sind ja schnell besichtigt.«
Sie berichtete kurz von ihrer Kutschfahrt mit Emily und erkundigte sich, ob die Einladung, die Kaninchen anzuschauen, noch gelte.
»Gewiss doch, ich freue mich, wenn Sie mich und meine liebe Frau im Pfarrhaus besuchen.«
Er gab einer rundlichen Dame in Dunkelblau ein Zeichen, die sofort zu ihnen herüberkam.
»Darf ich Ihnen Mrs. Morton vorstellen? Fräulein Pauly, Miss Emilys neue Gouvernante.«
»Das freut mich sehr. Mein Mann sagt, wir dürfen Sie demnächst bei einem unserer musikalischen Abende begrüßen?«
Charlotte warf einen raschen Blick auf Sir Andrew. Er hatte sich jedoch einem jungen Mann zugewandt, der mit ausgesuchter Eleganz gekleidet war und von einer hübschen jungen Frau begleitet wurde.
»Wenn es meine Zeit erlaubt, gern.«
Sie plauderten ein wenig, bevor Sir Andrew hinzutrat und sie nach und nach den anderen Gästen vorstellte. Darunter waren ein Rechtsanwalt mit Frau, der Abgeordnete eines benachbarten Wahlkreises mit seiner Frau und den beiden Söhnen, der Bürgermeister von Dorking mit Frau und Tochter sowie zwei ältere unverheiratete Damen, die sich der Förderung der Wissenschaften verschrieben hatten. Der elegante junge Mann hieß Jonathan Edwards und war ein Rechtsanwalt aus London, der ebenfalls politisch tätig war. Er hatte vor Kurzem geheiratet und wollte seine Frau an diesem Abend mit dem Hausherrn bekannt machen.
Trotz der freundlichen Aufnahme fühlte sich Charlotte ein wenig unwohl, da sie keinen der Anwesenden näher kannte. Als man sich zu Tisch begab und sie feststellen musste, dass man sie gegenüber der gelangweilt wirkenden Gattin des Bürgermeisters platziert hatte und ihre Tischherren sich über ihren Kopf hinweg über die Zugverbindungen von Südengland in die Hauptstadt unterhielten, wurde ihr mit schmerzlicher Deutlichkeit bewusst, dass sie nicht dazugehörte. Aber auch nicht zu den Dienstboten, die die Speisen auftrugen und für den reibungslosen Ablauf des Dinners sorgten. Daher war sie erleichtert, als die Tafel aufgehoben wurde und die Herren sich mit Brandy und Zigarren zurückzogen, während die Damen Kaffee und Likör einnahmen.
Charlotte setzte sich in einen Sessel, der etwas abseits stand, drehte ihr Glas in den Händen, bis das Kristall die Wärme ihrer Finger angenommen hatte, und nippte bisweilen daran.
Die Gattin des Bürgermeisters, ihre Tochter und die Frau des Abgeordneten plauderten angeregt über die vergangene Londoner Saison, wobei Charlotte allerdings argwöhnte, dass sie die illustren Namen nur aus der Zeitung kannten. Sie schaute sich um und fühlte sich weiterhin ausgesprochen unbehaglich. Hoffentlich war es bald Zeit für ihren musikalischen Vortrag.
»Sie sitzen so allein da, Miss Pauly«, sagte eine freundliche Stimme. Mrs. Morton war mit einer Kaffeetasse in der Hand zu ihr getreten und hatte im Sessel gegenüber Platz genommen. »Es ist nicht leicht, in ein fremdes Land zu gehen, nicht wahr?«
»Es hört sich an, als sprächen Sie aus Erfahrung«, erwiderte Charlotte dankbar.
»Nun, das ist richtig. Mein Mann und ich haben einige Jahre in Indien verbracht, bevor er die Pfarrstelle hier übernahm. Das Klima war seiner Gesundheit nicht zuträglich, sonst wären wir vielleicht noch länger geblieben. Dort gibt es durchaus Gelegenheit, das Werk Gottes zu tun, und wir sind vielen liebenswerten Menschen begegnet.«
»Indien – ich möchte meine bescheidene Reise nicht mit dem Umzug auf einen anderen Kontinent vergleichen«, erwiderte Charlotte lächelnd. »Sie haben dort gewiss eine völlig neue Welt erlebt, die ich mir gar nicht vorstellen kann.«
Ein Hauch von Wehmut huschte über Mrs. Mortons Gesicht. »Das ist wahr. Indien kann bezaubernd sein, ein Rausch aus Farben und Gerüchen, prachtvollen Bauten, hinreißenden Landschaften und einer Vielfalt an Tieren und Pflanzen.« Sie zögerte. »Aber ich habe auch die Armut gesehen, die Sitten, die bisweilen grausam anmuten. Die Unberührbaren, die Untersten der Gesellschaft, die von allen mit Füßen getreten werden.« Sie straffte die Schultern. »Nein, ich fühle mich in England wieder zu Hause und
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