Der verbotene Fluss
Sie die Tür, dann lässt man uns in Ruhe.« Sie zog einen Hocker unter dem Tisch hervor und schob ihn der Besucherin hin. »Bitte nehmen Sie Platz.« Es war deutlich zu sehen, dass sie ihre Neugier nicht ganz verbergen konnte.
»Emily und ich waren heute in Dorking und haben die Teestube der Schwestern Finch besucht«, begann Charlotte zögernd. Als sie die Begegnung mit Tilly Burke schilderte, wurde Mrs. Evans’ Miene sehr ernst.
»Ich wüsste gern, was bei Lady Ellens Tod geschehen ist«, erklärte Charlotte. »Sie werden verstehen, dass ich nur mit Emily arbeiten und sie angemessen erziehen kann, wenn ich weiß, was sie bedrückt. Dass sie leidet, habe ich schon mehrmals gemerkt. Die Begegnung mit dieser Tilly Burke jedoch hat sie völlig verstört.«
»Und warum kommen Sie damit zu mir?«, fragte Mrs. Evans kühl.
Die Antwort kostete Charlotte einige Überwindung. »Weil Sie diesen Haushalt und diese Familie gut kennen, während ich bis vor Kurzem nicht einmal Lady Ellens Namen wusste. Weil ich Sir Andrew nicht damit behelligen möchte. Weil ich ihm damit womöglich neuen Schmerz zufügen würde. Weil mein mangelndes Wissen meine Arbeit als Hauslehrerin erschwert. Und weil ich Emily in dieser kurzen Zeit bereits lieb gewonnen habe und ihr helfen möchte.«
Mrs. Evans überlegte so lange, dass Charlotte schon glaubte, sie werde nicht antworten. Sie zwang sich, ruhig auf ihrem Hocker sitzen zu bleiben, obwohl sie am liebsten aufgesprungen und hinausgelaufen wäre. Die Situation hatte etwas Demütigendes.
Schließlich sagte die Haushälterin: »Ich verstehe. Allerdings bringen Sie mich damit in eine heikle Lage. In diesem Haus wird nicht über Lady Ellen gesprochen, das hat Sir Andrew streng untersagt. Ihr Tod hat ihn und seine Tochter derart getroffen, dass schon die Erwähnung ihres Namens unerwünscht ist.«
»Ich erwarte keine Klatschgeschichten«, erwiderte Charlotte, die ihre Fassung wiedergewonnen hatte. »Dass ich nicht weiß, was Emily erlebt hat und worunter sie leidet, erschwert jedoch zusehends meine Arbeit. Wenn sich daran nichts ändert, sehe mich leider gezwungen, mich nach einer neuen Position umzusehen.«
Eigentlich hatte sie Mrs. Evans nicht auf diese Weise drohen wollen, doch nun war sie froh über ihre eigene Kühnheit. Die Frau hatte sich stets überlegen gegeben und Charlotte spüren lassen, dass sie neu im Haushalt war. Doch sie wollte gewiss nicht schuld sein, wenn die mit großen Hoffnungen erwartete Gouvernante aus Deutschland nach so kurzer Zeit ihre Stelle kündigte.
Mrs. Evans seufzte. »Na schön. Ich erzähle Ihnen einfach, was passiert ist. Aber ich ersuche Sie, Sir Andrew gegenüber Stillschweigen zu bewahren; ich möchte meine Stellung im Haus nicht gefährden.«
»Gewiss«, versicherte Charlotte.
»Lady Ellen ist im März im Mole ertrunken. Sie hat in einer Nacht das Haus verlassen und ist zum Fluss gegangen. Ein Stück flussabwärts fand man ihren elfenbeinfarbenen Schal am Ufer. Er hatte sich in einem Ast verfangen. Der Mole war reißend in jenen Tagen; es hatte längere Zeit stark geregnet. Vermutlich ist sie ausgerutscht und ins Wasser gestürzt. Es war niemand in der Nähe, der sie gesehen oder gehört hat und ihr hätte zu Hilfe kommen können.«
Sie schwieg.
»Es war also ein Unglücksfall?«
Charlottes Stimme klang unnatürlich laut in dem engen Raum.
»Davon ist auszugehen«, erwiderte Mrs. Evans seltsam steif.
»Das ist natürlich ein schweres Schicksal für die Familie«, sagte Charlotte, doch die Worte kamen ihr seltsam hohl vor. »Weiß Emily, was passiert ist?«
Mrs. Evans nickte. »Man hat ihr das erzählt, was sie wissen musste.«
Charlotte seufzte. Mehr als diese dürre Schilderung war von der Haushälterin nicht zu erwarten. Doch womöglich konnte sie von Nora mehr erfahren. Die junge Frau war leicht zu beeinflussen, und wenn sie ihr etwas Freundlichkeit erwies, wurde sie vielleicht gesprächiger.
»Ich hoffe nur, dass wir dieser Alten nicht öfter begegnen«, erklärte Charlotte. »Es wäre bedauerlich, wenn es noch mehr Orte in der Umgebung gäbe, die für Emily eine Bedrohung sind. Das würde unsere Spaziergänge sehr einschränken.«
Mrs. Evans wusste natürlich, worauf sie mit diesen Worten anspielte. »Vom Fluss sollten Sie sich auf jeden Fall fernhalten.« Damit schien das Gespräch für sie beendet zu sein.
Charlotte wollte gerade gehen, als Mrs. Evans einen Blick auf die Schale warf, die auf dem Sekretär stand, und einen Brief
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