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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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anbieten?«
    »Nein, danke, Sir Andrew.«
    Er musterte sie prüfend. »Sie haben sehr gut gespielt. Dafür danke ich Ihnen. Und für die Vorstellung mit Emily.«
    »Das Üben hat mir Freude bereitet. Uns beiden.« Sie zögerte, weil ihr so viele Fragen auf der Zunge lagen, doch sie beherrschte sich.
    »Wenn ich das nächste Mal Gäste habe, würde ich es gern wiederholen. Eine musikalische Darbietung lockert die Atmosphäre auf und – unpassende Bemerkungen lassen sich vielleicht künftig verhindern.« Er trank einen großen Schluck Whisky. Dann lächelte er gezwungen.
    »Ich will Sie nicht länger aufhalten, Fräulein Pauly. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Er hielt ihr die Tür auf und schloss sie behutsam, nachdem Charlotte in den Korridor getreten war.
    In ihrem Zimmer atmete sie tief durch, streifte das Kleid und die Unterröcke ab, schnürte das Korsett auf und ließ sich aufs Bett fallen. Dann setzte sie sich in den Schneidersitz und stützte das Kinn nachdenklich in die Hand.
    Sie wurde nicht schlau aus Sir Andrew. Weshalb hatte er vorhin nicht die Gelegenheit ergriffen und ihr erzählt, was mit seiner Frau geschehen war, da er doch auf Mrs. Edwards’ Fauxpas angespielt hatte? Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, kurz zu erklären, welche Tragödie die Familie getroffen hatte. Doch da war sie wieder, diese aufreizende Verschwiegenheit und kühle Distanz, mit der er ihr begegnete.
    War er so tief verletzt, dass er es nicht über sich brachte, mit Fremden darüber zu sprechen? Doch dass er seiner Tochter un tersagte, die Mutter zu erwähnen, ging über jedes erträgliche Maß hinaus.
    Bei Mrs. Edwards’ unglückseliger Bemerkung hatte sich ein Riss in der Fassade aufgetan, hatte er ihr einen flüchtigen Blick in sein Inneres gestattet, bevor er wieder die undurchdringliche Miene aufsetzte.
    Plötzlich, als Charlotte an Sir Andrews Drohung bezüglich Tilly Burke dachte, spürte sie einen Anflug von schlechtem Gewissen und fragte sich, ob er tatsächlich so weit gehen würde, die Frau in eine Nervenheilanstalt einweisen zu lassen. Stand das überhaupt in seiner Macht?
    Sie erhob sich und machte sich fürs Zubettgehen bereit. Sie hatte vorhin noch kurz bei Emily hineingeschaut; das Mädchen schlief tief und fest.
    Charlotte las noch ein wenig, bevor sie das Licht löschte und ihr Kopfkissen zurechtrückte. Das gestärkte Leinen lag angenehm rau an ihrer Wange, draußen rauschten die Blätter im Wind, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Zu viel war in den vergangenen Tagen geschehen, und die unaufhörlich kreisenden Gedanken raubten ihr die Ruhe.
    Nachdem sie endlich in einen unruhigen Halbschlaf gesunken war, schreckte sie plötzlich hoch. Ein Geräusch – oder bildete sie es sich nur ein? Sie lag auf dem Rücken und hielt den Atem an, horchte angestrengt. Da war es wieder!
    Ein leises Tappen und Schleifen, kaum zu hören, das draußen von der Treppe kam. Sie setzte sich auf und lauschte. Es klang seltsam verstohlen.
    Charlotte stand auf und griff nach einem Tuch, das sie sich um die Schultern legte. Sie machte einen Schritt zur Tür und stieß sich den Fuß schmerzhaft an einem Stuhl, worauf sie einen Schmerzenslaut gerade noch unterdrücken konnte. Sie blieb reglos stehen.
    Es war wie in jenen Albträumen, in denen man am Boden festgewurzelt ist und nicht fliehen kann, obwohl es einen drängt, vor dem Grauen davonzulaufen. Charlottes Füße waren wie aus Blei, so schwer, dass sie sich nicht von der Stelle rühren konnte, ihre Arme hingen kraftlos herab.
    Als die Lähmung endlich von ihr abfiel, waren die Geräusche verklungen. Behutsam umschloss sie den Türknauf und drehte ihn mit angehaltenem Atem. Öffnete die Tür erst einen Spalt, dann weiter. Spähte hinaus auf den Treppenabsatz, doch vor ihr war nur leere Dunkelheit. Die Treppe hinabzusteigen wagte sie nicht. Sie horchte angestrengt, doch das Geräusch kehrte nicht wieder.

12
    Oktober 1890, London
    Der Vorhang senkte sich, und im weiten Rund des Zuschauerraums brach donnernder Applaus los. Viele Besucher erhoben sich von ihren Plätzen. Nach kurzer Zeit öffnete sich der Vorhang wieder, und die Schauspieler verneigten sich in einem Meer von Blumen, die aus dem Publikum auf die Bühne regneten.
    Tom Ashdown, der einen auffälligen grünen Gehrock aus Samt trug, warf seinem Begleiter einen entnervten Blick zu, stand ebenfalls auf – und begab sich zur Tür der Loge. »Hier bleibe ich keine Sekunde länger«, zischte er. »Lass uns etwas

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