Der verbotene Fluss
Street
Adelphi, London W. C.
18
Oktober 1890, Chalk Hill
Charlotte hatte reglos dagestanden, während Emilys Kopf an der Schulter ihres Vaters ruhte. Sir Andrew hatte mit dem Rücken zu ihr gesessen, völlig reglos, nur seine Hand hatte in einer immer gleichen Geste über Emilys kleinen Körper gestrichen.
Angespannt war sie gewesen, hatte sich wie ein Eindringling gefühlt, wollte die tiefe Stille aber nicht durch ein Wort oder eine Bewegung stören. Als Emily eingeschlafen war – wie lange es gedauert hatte, konnte Charlotte nicht sagen, doch ihre Füße waren mittlerweile eiskalt gewesen –, hatte Sir Andrew seine Tochter sanft hingelegt, zugedeckt und war aufgestanden.
Draußen im Flur hatte er sie mit einem schwer zu deutenden Blick angeschaut.
»Fräulein Pauly, ich weiß, es ist mitten in der Nacht, aber ich möchte Sie dennoch bitten, mir alle Zwischenfälle genau zu schildern. Es ist wichtig. Ich nehme den ersten Zug nach London und weiß noch nicht, wann ich zurückkomme.«
Das Gespräch hatte über eine Stunde gedauert; er hatte sich sogar Notizen gemacht.
Am nächsten Morgen ließ Charlotte Emily ausschlafen – weil ihr Schützling den Schlaf brauchte, aber auch aus Furcht, da sie nicht wusste, wie sie dem Mädchen begegnen sollte. Sie hatte sich nach der Unterredung mit Sir Andrew unruhig im Bett gewälzt und immer wieder Emilys Gesicht vor sich gesehen – die aufgerissenen Augen, das wirre Haar, den Blick, der sich auf etwas heftete, das niemand außer ihr sehen konnte.
Charlotte war klar geworden, dass Sir Andrew einen schweren Fehler begangen hatte, als er den Tod seiner Frau zum Tabu erklärt und der Tochter verboten hatte, über ihre Mutter zu sprechen. Man heilte einen Schmerz nicht, indem man ihn verdrängte.
Nun war sie fertig angezogen und sah auf die Uhr. Erst acht. Hunger hatte sie noch nicht, wusste aber auch nichts Rechtes mit sich anzufangen. Durchs Fenster sah sie, wie Wilkins die Kutsche in die Einfahrt lenkte, gewiss hatte er Sir Andrew nach Dorking zum Bahnhof gebracht. Mit wem würde er wohl in London sprechen? Und was bedeutete das für Emily?
Unruhig ging sie in ihrem Turmzimmer umher, das ihr bei ihrer Ankunft so reizvoll erschienen war. Natürlich hatte es sich nicht verändert, war immer noch hübsch und hell, doch in ihr selbst war etwas anders geworden.
Wenn sie still dasaß und las oder wach im Bett lag, meinte sie manchmal, eine Gegenwart zu spüren, ein Etwas, das anfangs nicht hier gewesen war. Charlotte war eigentlich ein rationaler Mensch und schalt sich wegen der verrückten Gedanken, doch diese Ahnung des Unheimlichen wurde zunehmend stärker. Plötzlich fiel ihr die Nacht nach der Abendgesellschaft ein, als sie die sonderbaren Geräusche vor der Tür gehört hatte. Damals hatte sie nicht gewagt, sich auf der Treppe umzusehen, doch nun, am frühen Morgen, gab es keinen Grund zur Furcht.
Charlotte ergriff eine Petroleumlampe, öffnete die Zimmertür und stieg die Treppe hinunter. An der Tapetentür hielt sie kurz inne und tat dann etwas, was sie bisher noch nie getan hatte: Sie zündete die Lampe an und stieg langsam die Stufen hinunter, die zu ihrem Erstaunen nicht enden wollten. Mit jedem Schritt wurde es kälter, und Feuchtigkeit kroch ihr entgegen. Immer tiefer wand sich die Treppe hinab, und Charlotte warf einen zögernden Blick über die Schulter, bevor sie weiterging. Es gab unterwegs keine Türen, nur die nackten, verputzten Wände, die sich unter ihren Fingern klamm und eisig anfühlten. Gewiss befand sie sich schon auf Kellerniveau, unter der Erde.
Schließlich gelangte sie doch zu einer Tür aus schwerem, mit Eisen beschlagenem Holz, die uralt aussah. Sie drückte die Klinke, die sich kalt in ihre Hand schmiegte. Abgeschlossen. Charlotte bückte sich und leuchtete ins Schlüsselloch, konnte aber nichts erkennen. Sie schnupperte vorsichtig, doch die Luft war so kalt, dass es ihr den Atem verschlug. Sie wich zurück und verfing sich mit dem Absatz in ihrem Rock. Gerade wollte sie kehrtmachen, als sie ein Geräusch hörte.
Ein Rascheln, sehr leise. Es konnte ein Tier sein, Maus oder Ratte, das sich im Keller hinter der Tür verbarg. Oder ein Hausmädchen war von der Küche aus hereingekommen, um Vorräte zu holen. Gewiss gab es eine ganz banale Erklärung. Dennoch überlief sie ein Schauer.
Charlotte schluckte und drehte sich zur Treppe um. Dann stieg sie die Stufen hinauf, wobei sie sich zwingen musste, nicht nach oben zu stürzen. Als
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