Der verbotene Fluss
sie wieder in ihrem Zimmer stand, spürte sie ihren Herzschlag noch immer in der Kehle.
Auch an diesem Morgen sprach Emily zunächst nicht über die Schrecken der Nacht, wirkte aber blasser und stiller als sonst. Sie arbeitete fleißig, doch Charlotte ertappte sie bisweilen dabei, wie sie mit dem Stift in der Hand dasaß und erwartungsvoll zum Fenster schaute.
Noch am selben Abend kehrte Sir Andrew aus London zurück. Er wirkte schweigsam, die kurze Vertrautheit der Nacht, in der sie sich gemeinsam um Emily gesorgt hatten, war verflogen. Er erwähnte nicht, was er in London unternommen hatte oder ob er irgendeine Entscheidung bezüglich seiner Tochter getroffen hatte. Charlotte war unsicher, wie sie ihm begegnen sollte, wenn er sich ihr gegenüber so verschlossen zeigte.
Als Emily drei Tage später immer noch auffällig schweigsam war, fragte Charlotte sie in sanftem Ton: »Emily, was ist los mit dir? Denkst du an die Nacht, in der du schlimm geträumt hast?«
Sie schaute Charlotte an, als kehrte sie von einer weiten Reise zurück, deren Bilder sie noch gefangen hielten. »Welche Träume meinen Sie?«
»Du weißt schon.« Charlotte trug ihren Stuhl zu Emilys Pult und setzte sich neben sie. »Als du Angst hattest und von deiner Mutter gesprochen hast.«
»Das war kein Traum«, sagte Emily leise und sah wieder zum Fenster. »Sie war da. Sonst hätte sie mir nicht von dem Fluss er zählen können. Zuerst war es so kalt, aber dann hat das Wasser sie gewiegt wie Hände, die ein Baby halten. So hat sie es beschrieben.«
Charlottes Kehle war eng, sie konnte kaum schlucken. Es war, als stünde die Zeit still, als hätte sich in diesem Augenblick etwas unwiderruflich verändert, als ginge eine Schranke nieder, die das Leben in ein Vorher und Nachher teilte. Ihre Augen brannten, und sie vermochte nur mit Mühe die Tränen zurückzuhalten. Verlor Emily den Verstand? Waren die Albträume und nächtlichen Wanderungen die Vorboten einer geistigen Erkrankung? Das durfte nicht sein, darunter litten Erwachsene oder alte Menschen, aber keine achtjährigen Kinder.
»Es gibt Träume, die so lebhaft sind, dass man sie kaum von der Wirklichkeit unterscheiden kann.« Sie sah Emily mit einem bemühten Lächeln an. »Ich habe mal geträumt, ich hätte ein Kätzchen geschenkt bekommen, das in meinem Bett schlafen durfte. Im Traum habe ich es gestreichelt, es schnurren gehört und sein weiches Fell unter meinen Fingern gespürt. Als ich aufwachte, habe ich mit der Hand im Bett herumgetastet und das Kätzchen gesucht. Als es nicht da war, bin ich zu meiner großen Schwester gelaufen und habe um mein verlorenes Kätzchen geweint.«
Es ging so schnell, dass Charlotte nicht reagieren konnte. Emily sprang auf, dass ihr Stuhl nach hinten kippte und auf den Boden krachte, riss die Tür auf und verschwand im Flur. Charlotte hörte Schritte auf der Treppe und stürzte ihr hinterher. Die Haustür stand offen, das Mädchen musste schnell wie der Blitz gelaufen sein. Ohne einen Mantel überzuziehen, rannte Charlotte hinaus und sah sich auf dem Vorplatz um. Wilkins kam mit einem Hammer in der Hand aus der Remise und schaute sie fragend an. »Kann ich helfen?«
»Miss Emily ist gerade aus dem Haus gelaufen. Haben Sie sie gesehen?«
Er schüttelte den Kopf und legte den Hammer beiseite. »Sie gehen hinten herum, ich sehe auf der Straße nach.«
Charlotte lief am Haus vorbei in den Garten. Das Gewächs haus. Sie eilte darauf zu und stieß die Tür auf. Warme, feuchte Luft schlug ihr entgegen. Das üppige Blattwerk der Pflanzen bot einige Verstecke. Doch sie suchte vergeblich alle Ecken ab. Dann eilte sie hinüber zu der alten Ulme mit der Schaukel, auf der Emily so viel Spaß gehabt hatte. Auch hier gab es keine Spur von ihr.
Wohin konnte sie in der kurzen Zeit gelaufen sein? Hoffentlich nicht in den Ort hinein, zur Landstraße und den Bahngleisen.
Sie sah Wilkins um die Ecke biegen, der nur den Kopf schüttelte. Wenigstens war Emily nicht auf die Straße gelaufen. Charlotte blieb stehen, legte den Finger an die Lippen und horchte, als könnte sie hier draußen Emilys Atem wahrnehmen und ihm wie einem Wegweiser folgen. Wilkins stand da und sah sich schulterzuckend um.
Charlotte wollte schon ins Haus zurückkehren und Verstärkung für die Suche holen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung am Ende des Gartens wahrnahm. Etwas rührte sich dort, wo das schmiedeeiserne Tor in die Mauer eingelassen war. Sie bedeutete Wilkins, er solle
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