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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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dorthin zu lenken, wo die Antworten lagen.
    »Ich habe Tilly getroffen. Sie hat viel Unsinn geredet, das ist wahr. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, in ihren Worten könnte auch ein Körnchen Wahrheit stecken.«
    Nora sah sie argwöhnisch an. »Keiner glaubt der alten Tilly.«
    »Sie hat gesagt, Sir Andrew habe seine Frau fortschicken wollen. Ist das wahr?«
    Noras Blick verriet mehr als ihre Worte. »Ich möchte jetzt gehen.« Sie stand auf und stolperte zur Tür. Charlotte machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten.
    Als sie allein in ihrem Zimmer war, kamen ihr die Tränen. Sie zeigte nicht gern ihre Gefühle; selbst als Friedrich sie im Stich gelassen und dem Spott der Berliner Gesellschaft preisgegeben hatte, war sie äußerlich beherrscht geblieben. Nun aber umhüllte die Einsamkeit sie wie ein kalter Mantel, und sie vergrub den Kopf in den Armen.
    Was war in dieser Familie vorgefallen? Zum ersten Mal wusste Charlotte nicht, wie sie ihre Arbeit weiterführen sollte. Natürlich hatte sie es bisweilen mit schwierigen oder schlecht erzogenen Kindern zu tun gehabt, aber das waren Probleme, die sich mit dem Verstand lösen ließen. In Emilys Fall aber half es ihr nicht weiter, weil ihr das Mädchen wirklich ans Herz gewachsen war. Und sie fühlte sich hilflos angesichts des großen Schmerzes, der auf dieser Familie lastete.
    Dann kam ihr wieder der Zettel mit der Adresse in den Sinn. War es Sir Andrew wirklich ernst damit, seine Tochter von einem Fachmann für übersinnliche Phänomene untersuchen zu lassen? Wie konnte er Naturwissenschaftler sein und gleichzeitig an so etwas glauben? Oder war es nur der hilflose Schritt eines verzweifelten Vaters?
    Am liebsten hätte sie noch einen langen Spaziergang unternommen, wäre losgelaufen und immer weitergegangen, bis sie am Ende ihrer Kräfte war und nur noch todmüde ins Bett fallen konnte. Doch dafür war es zu spät.
    Charlotte zog sich aus, wusch sich und legte ihr Nachthemd an. Dann lief sie im Zimmer auf und ab, um müde zu werden, doch die Bewegung machte sie nur noch unruhiger. Also blieb sie reglos stehen und drehte sich langsam um sich selbst. Das Zimmer – hier hatte Lady Ellen viele Stunden ihres Lebens verbracht. War es denkbar, dass ein Mensch einem Raum seinen Stempel aufdrückte, dass etwas von seiner Persönlichkeit zurückblieb, selbst wenn er ihn längst nicht mehr bewohnte? Selbst wenn er nicht mehr am Leben war?
    Charlotte atmete tief durch. Dann legte sie ein Kissen auf den Boden und setzte sich im Schneidersitz darauf. Sie verschränkte die Hände im Schoß und schloss die Augen. Versuchte, die Gegenwart der Frau heraufzubeschwören, die hier aufgewachsen war – womit hatte sie gespielt, wovor hatte sie sich als Kind gefürchtet, wovon als junges Mädchen geträumt? Von einer Ehe mit Sir Andrew Clayworth? Von eigenen Kindern? Oder waren es ganz andere Bilder gewesen, die durch ihre Fantasie geisterten?
    Charlotte saß ganz still da, hörte nur ihren eigenen Atem und das Rauschen der Bäume im Wind. Sie spürte, dass sie ruhiger wurde, als sie es in den ganzen letzten Tagen gewesen war. Sie zwang sich, wieder an die Frau zu denken, der dieses Zimmer gehört hatte. Was hatte sie in jener Nacht dazu bewogen, durchs Gartentor in den Wald zu treten, den Weg zum Fluss einzuschlagen und ihrem Leben dort ein Ende zu setzen? Vielleicht war sie vor etwas geflohen – oder aber sie hatte sich zu etwas hingezogen gefühlt.
    Zum Fluss und den Geistern.
    Sie öffnete mit einem Ruck die Augen und sah sich um. Das Licht war anders als zuvor – nein, das kam nur daher, dass sie die Augen so lange geschlossen hatte. Zufällig fiel ihr Blick auf eine Ecke unten neben dem Kleiderschrank, und sie stutzte. Eine Diele wirkte seltsam uneben. Charlotte kroch hin und fuhr behutsam mit der Hand über das Brett. Es war tatsächlich ein wenig höher als die angrenzenden Dielen. Sie tastete es der Länge nach ab und entdeckte eine Einbuchtung, die ein Astloch hinterlassen hatte. Charlotte steckte den Zeigefinger hinein und zog – erst vorsichtig, dann fester, bis sich die Diele ein Stück anhob. Sie schob die ganze Hand in die entstandene Öffnung.
    Das durchsichtige Apothekerglas war unbeschriftet. Charlotte hielt es ins Licht der Gaslampe und betrachtete die weiß schimmernden Kristalle darin. Was mochte das sein? Kein Speisesalz, dafür war es zu grobkörnig. Sie zog den Glasstöpsel ab und roch daran. Nichts. Dann schüttete sie ein Körnchen auf die Hand,

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