Der verbotene Fluss
verstehen, begriff dann aber, dass sie bei dieser Frau vor allem eines brauchte – Geduld.
»Sie war ein so hübsches Mädchen. Immer fröhlich. Sie konnte wunderbar tanzen.«
»Es heißt doch, sie sei auch traurig gewesen.«
Die alte Frau drehte den Kopf und stieß ein leises Knurren aus. »Als Kind war sie fröhlich. Immer und immer. Erst als sie den Mann genommen hat, wurde sie traurig.«
Charlotte wagte kaum zu atmen, so sehr fürchtete sie, Tilly Burke könne abgelenkt werden und verstummen. Noch nie hatte jemand die Ehe der Clayworths erwähnt.
»Manchmal ist sie zu mir gekommen, dann haben wir von früher erzählt. Als noch alles jung und grün war und die Geister vom Fluss sie noch nicht traurig gemacht hatten.«
»War sie denn nicht glücklich, dass sie eine Tochter hatte?«, fragte Charlotte vorsichtig.
Es entstand eine lange Pause.
»Sie war ihr Ein und Alles, ihr Atem, ihr Stern, ihr Gänseblümchen. Sie hat sie nie allein gelassen. Brachte sie sogar mit zur alten Tilly.«
Wir haben sie mal besucht. Ich mag sie nicht.
»Sie ist ein reizendes Kind.«
»Ja. Wie ihre Mutter. Und traurig.«
Charlotte wandte enttäuscht den Kopf ab. Sie hatte sich so viel von diesem Besuch versprochen, doch schien der Verstand der alten Frau allzu getrübt, um ihr noch etwas Brauchbares zu entlocken.
»Der Fluss hat sie geholt. Sie hat gesagt, sie mag nicht nahe am Fluss wohnen, sie könne ihn nachts spüren, wie er ruft und ruft. Er hat ihr Angst gemacht. Und sie angelockt. Das haben die Geister getan.«
Charlotte kam sich vor wie Aschenputtel. Tilly Burkes wirre Worte waren die Asche, und die Splitter der Wahrheit, die darin aufblitzten, waren die Linsen, die sie herauslesen musste. Und schon wieder Geister.
»Sie sagen also, Lady Ellen sei in ihrer Ehe nicht sehr glücklich gewesen.« Charlotte vertraute darauf, dass niemand Tilly Burke Glauben schenken würde, selbst wenn sie jemandem von diesem Gespräch erzählen sollte.
»Er wollte sie wegschicken.«
Charlotte zuckte zusammen und sah die alte Frau eindringlich an, doch diese schien sich gar nicht für ihren Gast zu interessieren.
»Sie kam zu mir und hat geweint. Sie sollte weg. Er wollte es so.« Tilly Burke schlang die Arme um den Körper und begann, sich vor und zurück zu wiegen. »Sie hatte Angst. Aber ich konnte ihr nicht helfen. Und dann haben die Geister sie gerufen.«
Beim Abendessen, das Charlotte mit Emily und deren Vater einnahm, vermochte sie ihre Erregung kaum zu verbergen. Der Besuch bei Tilly Burke hatte sie erschüttert, und sie hoffte, dass man es ihr nicht anmerkte. Emily wirkte erholt und erzählte von den Bildern, die sie am Nachmittag gemalt hatte.
»Sind Sie spazieren gegangen, Fräulein Pauly?«
»Ja, ich bin ziemlich weit gelaufen, bis Mickleham und zurück.«
»Haben Sie die Mortons besucht?«, wollte das Mädchen wissen.
Sie schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Ich wollte mir nur die Gegend ansehen.«
Sir Andrew schaute sie argwöhnisch an. »Sie waren spät zurück. Für eine Frau ist es weder schicklich noch ratsam, allein im Dunkeln umherzulaufen.«
Charlotte spürte, wie sie rot wurde. »Ach, ich hatte die Zeit vergessen. Als ich merkte, wie spät es schon war, habe ich sofort kehrtgemacht. Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Nachmittag verbracht.«
Er lächelte verhalten. »Was man so angenehm nennt, wenn es beim Mittagessen um Politik geht. Wir sprachen über den Ausbau des Abwassersystems und die anstehende Modernisierung der Bahngleise. Eine mögliche Asphaltierung der Hauptstraße wurde ebenfalls in Erwägung gezogen.«
Charlotte fragte sich, ob es ihn wirklich belustigte; wie so oft konnte sie seine Stimmung nicht richtig einschätzen.
»Wie lange sind Sie schon Abgeordneter?«, fragte sie höflich.
»Seit sieben Jahren«, erwiderte er und trank einen Schluck Rotwein.
Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig; er hatte seine politische Laufbahn also früh begonnen.
»Wenn Papa nach London zu einer Sitzung fährt, kann er immer Big Ben schlagen hören«, warf Emily stolz ein. Als sie Charlottes fragenden Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Das ist die große Glocke im Uhrturm des Parlaments. Papa hat versprochen, mich einmal mit dorthin zu nehmen, damit ich sie auch hören kann.« Sie sah ihn schräg von der Seite an, als wollte sie sich seines Versprechens versichern.
»Ja, ja«, sagte Sir Andrew abwesend. Hatte er Emilys Worte überhaupt zur Kenntnis genommen? Wenn er sein Versprechen nicht hielt,
Weitere Kostenlose Bücher