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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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schlechtes Gewissen, da sie nur unmittelbar nach ihrer Ankunft einen kurzen Brief geschickt hatte, um ihnen die Sorge zu nehmen. Nun aber war sie schon über einen Monat hier und hatte ihrer Familie nicht berichtet, wie es ihr seither ergangen war.
    Doch das, was hier geschah, konnte sie ihnen ohnehin nicht anvertrauen. Zu sonderbar war die Geschichte; sie wusste ja selbst nicht, was sie denken sollte. Sie würde einfach schreiben, dass es ihr gut ging, von Land und Leuten erzählen, von ihrer Schülerin und dem angenehm gelegenen Haus, den freundlichen Menschen, die sie kennengelernt hatte.
    Und doch sehnte sie sich nach jemandem, mit dem sie all das teilen konnte. Wie gern hätte sie eine Freundin gehabt, die ihr einen Rat gab oder die Vorkommnisse von fern mit gesundem Menschenverstand betrachtete! Aber die Einsamkeit war ein Teil ihres Berufes, und das hatte sie nie stärker empfunden als in diesem Augenblick. Wie viel einfacher stellten sich Probleme dar, wenn man sie in Worte fassen und dabei noch einmal überdenken konnte. Wenn sie mit Sir Andrew sprach, musste sie stets auf der Hut sein. Jeder Satz wollte genau erwogen sein, damit sie nicht in eine Falle tappte. Vertrauen und rückhaltlose Ehrlichkeit waren im Umgang mit ihm ausgeschlossen.
    Endlich tauchten die ersten Häuser von Mickleham auf, dahinter ragte der eckige, von einem Spitzdach gekrönte Kirchturm von St. Michael and All Angels empor. Ein hübscher Name für eine Kirche, dachte Charlotte.
    Am Rand des Dorfes blieb sie stehen und sah sich aufmerksam um. Heute musste sie den Mortons unbedingt aus dem Weg gehen, wenn ihr Vorhaben gelingen sollte.
    Sie stand etwas ratlos da. Wenn man in einem Ort etwas suchte, erschien er einem plötzlich größer als erwartet. Dann kam ihr ein Gedanke. Was hatte Emily gesagt?
    Am Rand von Mickleham. In einem alten Häuschen.
    »Wie freundlich, dass Sie mir beim Tragen helfen«, krächzte die alte Frau mit rauer Stimme und spähte unter dem Umschlagtuch hervor, das sie um Schultern und Kopf geschlungen hatte. Sie kam Charlotte vor wie eine Hexe aus den Märchen der Brüder Grimm.
    Sie hatte beim Anblick des bescheidenen Hauses schon vermutet, Tilly Burke könne darin wohnen, war aber langsam daran vorbeispaziert, als hätte sie kein besonderes Ziel, und hatte rasch kehrtgemacht, als sie den Pfarrer entschlossenen Schrittes in Richtung Kirche gehen sah.
    Als sie wieder das Häuschen mit dem verwilderten Vorgarten erreichte, von dessen Haustür die blaue Farbe abblätterte, tauchte die gebeugte Gestalt von Tilly Burke an der Hausecke auf. Sie hielt mit beiden Händen ein verschlissenes Tuch, in dem sie Brennholz schleppte.
    Charlotte war durchs Gartentor getreten und auf sie zugegangen. »Soll ich Ihnen helfen?«
    Nun stand sie in dem Wohnraum mit der niedrigen Decke, der gleichzeitig als Küche diente. In einer Ecke befand sich das Bett, das sich mit einem Vorhang abschirmen ließ, daneben eine geschlossene Tür. Die einfachen Möbel waren grob gezimmert, aber das Häuschen war gut geheizt und wirkte nicht unfreundlich. Auf dem Tisch stand ein Tonkrug mit Trockenblumen. In einem Kessel über einer offenen Feuerstelle brodelte es.
    »Schichten Sie das Holz in den Korb da«, wies Tilly Burke sie an, was Charlotte auch tat. Dann legte sie ein Scheit aufs Feuer, das sofort höher loderte.
    Sie fragte sich, ob die alte Frau sie wiedererkennen würde; schließlich hatte sie sie in der Teestube gesehen. Sie brauchte nicht lange zu überlegen.
    »Ich kenne Ihr Gesicht von irgendwoher.«
    »Ich bin die Gouvernante von Emily Clayworth. Wir sind uns in Dorking in der Teestube begegnet.«
    Die alte Frau setzte sich seufzend auf eine Bank und spähte zu ihr herauf. »Ist sie immer noch traurig?«
    Die Frage traf so sehr ins Schwarze, dass es schmerzte.
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Das Wasser steigt. Die Geister tanzen auf dem Mole. Sie bringen die Traurigkeit mit sich.«
    Sie ist verrückt, dachte Charlotte, doch die Worte besaßen etwas Hypnotisches, dem sie sich nicht entziehen konnte.
    »Es geht ihr gut«, sagte sie nur. Sie zog einen Stuhl heran und nahm Platz. Vielleicht konnte sie etwas Sinnvolles aus dem wirren Geschwätz der alten Frau herausfiltern, es herauswaschen wie Goldstaub aus einem Sieb voller Sand.
    »Sie kannten ihre Mutter? Lady Ellen?«
    Tilly Burke hatte den Kopf in den Nacken gelegt und summte vor sich hin. Charlotte fürchtete schon, sie habe ihre Worte nicht gehört oder wolle oder könne sie nicht

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