Der verbotene Fluss
letzter Zeit zu viel mit dem Übernatürlichen und hörte schon Geräusche, wo keine waren. Links von ihm lagen hinter Mauern die Gärten des Middle Temple, die spät am Abend ebenso verlassen waren wie die umstehenden Gebäude; um diese Zeit arbeitete kein Anwalt mehr.
Da waren die Schritte wieder. Er ging langsamer, ohne stehen zu bleiben, drehte sich dann blitzschnell um und packte einen halbwüchsigen Jungen am Kragen.
»Was hast du hier zu suchen?«
»Feuer, haben Sie Feuer, Sir?« Der Junge hielt eine Zigarette in die Höhe.
»Ich bin heute gut gelaunt und gebe dir Feuer statt einen Tritt in den Allerwertesten.« Er zündete ein Streichholz an, wobei er den Jungen im Auge behielt. Natürlich wollte der ihn bestehlen, daran zweifelte er keine Sekunde. Aber es war ein schöner Abend, den wollte er sich nicht verderben lassen.
Der Junge nickte, tippte sich an die Mütze und verschwand, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Vermutlich war er ihm schon auf dem Strand gefolgt, hatte ihn für betrunken gehalten und leichte Beute gewittert.
Tom trat durch einen hohen Torbogen und blickte auf den Fluss, auf dem selbst jetzt noch ein geschäftiges Treiben herrschte. London schlief nicht und die Themse auch nicht.
Das breite, erst vor zwanzig Jahren angelegte Victoria Embank ment bot einen herrlichen Blick über das Wasser. Tom stützte die Arme auf die Brüstung und schaute nach rechts, wo sich die spitzen Türme des Parlaments in den Abendhimmel reckten. Man erzählte sich von dem Obelisken, der ein Stück weiter westlich aufgestellt worden war, dass dort etwas umging; dass er, fern seiner ägyptischen Heimat, Selbstmörder anzöge. Tom glaubte keine Sekunde daran; solche Sensationsgeschichten waren reiner Hokuspokus.
Mrs. Leonora Piper hingegen nicht. Er dachte oft an die Sitzung mit ihr, die einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte. Seltsam, wie sehr sich diese Themen in sein Leben gestohlen hatten; selbst heute Abend war das Gespräch auf Medien gekommen, wenn auch nur, weil der extravagante Mr. Greene darauf verfallen war.
Tom warf die aufgerauchte Zigarette ins dunkle Wasser. Ein süßer Duft umwehte ihn, als ein Paar hinter ihm vorbeiging. Das Lachen der Frau war noch zu hören, als die Schritte bereits verklungen waren. Der Geruch erinnerte ihn an Miss Sinclair – war es dasselbe Parfum?
Er wandte dem Fluss den Rücken zu, lehnte sich an die Brüstung und schaute zum Himmel, über den der Wind helle Wolkenfetzen jagte. So heiter und gelassen hatte er sich lange nicht gefühlt, und er fragte sich, ob es tatsächlich nur die Wirkung eines Abends unter Freunden war.
Am nächsten Morgen fand Tom einen Brief neben seinem Frühstücksteller. Er hatte nach seiner Heimkehr noch geschrieben und war entsprechend spät zu Bett gegangen, sodass er nicht gemerkt hatte, dass ein Bote früh am Morgen eine Nachricht bei Daisy abgegeben hatte.
Er warf einen Blick auf den Absender. Dr. Henry Sidgwick, dazu die Adresse der Society for Psychical Research in der Buckingham Street. Die Notiz war kurz, aber höflich.
Mein lieber Ashdown,
es wäre schön, wenn Sie am nächsten Donnerstag mit uns essen würden. Ich habe einen Auftrag, den ich Ihnen anvertrauen möchte.
Herzlich,
H. Sidgwick
Das Haus in der Chesterton Road, in dem Henry und Eleanor Sidgwick wohnten, strahlte eine ungeheure Wärme aus. Tom Ashdown fühlte sich von dem gelben Licht angezogen, das durch die Erkerfenster und das fächerförmige Oberlicht über der Haustür fiel. Er war erst einmal hier gewesen und hatte den Abend in angenehmer Erinnerung behalten. Schon beim Eintreten spürte man die anregende Atmosphäre, die in den Räumen herrschte, und die Harmonie, in der die Eheleute lebten.
Bei seinem ersten Besuch hatte es Tom einen leisen Stich versetzt, da er an sein eigenes leeres Haus denken musste und an das Glück, das er und Lucy miteinander geteilt hatten. Diesmal aber verdrängte er die trüben Gedanken und konzentrierte sich auf die Frage, welchen Auftrag Sidgwick wohl im Sinn haben könnte.
Eleanor öffnete ihm selbst die Tür und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen.
»Kommen Sie herein, Tom. Was für ein unwirtlicher Abend. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt.« Sie nahm seinen Schirm entgegen und stellte ihn in den Ständer neben der Garderobe, dann ließ sie sich Hut und Mantel reichen. »Ihr Mantel ist völlig durchnässt. Sind Sie etwa gelaufen?«
Tom zuckte mit den Schultern. »Ich hatte den Weg vom Bahnhof
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