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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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mehr an Emily, deren Vater oder die tote Lady Ellen gedacht hatte. Und sie hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen deswegen.

22
    Wäre Charlotte abergläubisch gewesen, hätte sie die folgenden Ereignisse für eine Strafe halten können. Sie war, beflügelt von der Zeitungslektüre, leichten Herzens zum Bahnhof gelaufen, wo sie auf Wilkins traf. Doch als er mit dem Wagen in Chalk Hill vorfuhr, riss Mrs. Evans bereits hastig die Haustür auf. Ihr Gesicht war gerötet, ihre ganze Haltung drückte höchste Erregung aus.
    »Gut, dass Sie kommen, Miss Pauly!«, rief sie ihr entgegen.
    Charlotte sprang eilig aus dem Wagen und lief zur Tür. »Was ist passiert?«
    Hinter ihr kam Nora aus dem Wohnzimmer geeilt und streckte Charlotte, kaum dass sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, ein Blatt Papier entgegen. Sie zitterte so sehr, dass es ihr fast aus der Hand fiel.
    »Was ist das?«
    »Miss Emily … Sie war nicht lange allein … Ich musste meinen Stickrahmen holen.« Nora rang um Fassung und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
    »Nun rede schon«, sagte Charlotte energisch und nahm ihr das Blatt aus der Hand. Dann schob sie das aufgelöste Kindermädchen in den Frühstücksraum im Dienstbotentrakt und bat Mrs. Evans, so lange zu Emily zu gehen.
    »Was ist passiert?«, fragte sie noch einmal, nachdem Nora auf einen Stuhl gesunken war.
    »Ich … Ich wollte sie nicht lange allein lassen, aber … ich habe den Stickrahmen gesucht, und da fiel mir eine Tüte mit Garn in die Hand … Ich habe nachgesehen, ob schöne Farben dabei sind …«
    Charlotte holte tief Luft. »Wie lange war sie allein?« Sie legte Nora die Hand auf die Schulter. »Es geht hier nicht um Schuld. Niemand hat gesagt, sie dürfe tagsüber nicht allein sein. Aber ich muss es wissen.«
    Nora schluckte und zog die Nase hoch. »Eine Viertelstunde vielleicht.«
    »Und dann?«
    »Als ich ins Schulzimmer zurückkam, saß sie an ihrem Pult. Ich habe gefragt, was sie da macht, und sie meinte, sie schreibt einen Brief. Ich habe gefragt, ob ich ihn sehen darf, da hat sie ihn in ihre Schürze gesteckt. Sie wirkte merkwürdig. Ich habe mir Sorgen gemacht. Also habe ich gesagt, sie soll ihn mir geben.« Nora senkte beschämt den Kopf. »Sie … Sie ist aufgesprungen und zur Tür gelaufen. Ich habe sie festgehalten und nach der Schürze gegriffen, und da hat sie angefangen zu schreien. Sie ist nach unten gelaufen und auf der vorletzten Stufe ausgerutscht.«
    Charlotte stockte der Atem.
    »Nein, nein, wie es aussieht, ist der Knöchel nur verstaucht. Aber sie hat starke Schmerzen.«
    Charlotte schloss flüchtig die Augen. War dies der Preis, den sie für das kurze Gefühl der Leichtigkeit bezahlen musste?
    »Miss?«
    Nora deutete auf das Blatt, das Charlotte noch immer in der Hand hielt, aber fast vergessen hatte.
    »Sie haben es noch nicht gelesen.«
    Charlotte hob es ans Licht. Es war aus einem Schulheft gerissen und mit Emilys kindlicher Schrift bedeckt.
    Liebe Mama,
    du bist schon seit Tagen nicht mehr zu mir gekommen. Jeden Abend habe ich auf dich gewartet, aber ich konnte dich nicht sehen. Aber eben hatte ich auf einmal das Gefühl, dass du bei mir bist. Und als ich aus dem Fenster gesehen habe, warst du da. Ich bin so froh. Ich weiß, dass es ein Geheimnis ist, und ich verrate nichts. Versprochen. Ich lege den Brief heute Nacht unter mein Kopfkissen, dann kannst du ihn dir holen.
    Ganz viele Küsse,
    Emily
    Sie kniete sich neben das Sofa, auf das man Emily gebettet hatte, und ergriff die Hand des Mädchens. Ihr Fuß war hochgelegt und in kalte, feuchte Tücher gewickelt. Mit einer Kopfbewegung schickte Charlotte Nora und Mrs. Evans aus dem Zimmer, holte die andere Hand hinter dem Rücken hervor und legte Emily die Bonbons und das Lavendelkissen auf den Schoß.
    »Ich hatte doch versprochen, dir etwas mitzubringen.«
    Emily, die noch kein Wort gesagt hatte, hielt das Kissen an die Nase und holte tief Luft.
    »Ist das Lavendel?«
    »Ja. Kennst du ihn aus dem Garten?«
    »Nein. Er erinnert mich an ein Parfum.«
    »Und magst du von den Bonbons probieren?«
    Emily nahm eins aus der Tüte, steckte es in den Mund und nickte.
    »Die sind lecker.« Sie bot Charlotte auch eins an.
    »Danke.« Charlotte schwieg für eine Weile. »Möchtest du mir erzählen, was passiert ist? Ich meine nicht deinen Fuß, sondern was vorher war. Im Schulzimmer.«
    Emily wandte den Kopf ab. »Niemand durfte ihn lesen. Das hatte ich versprochen.«
    Charlotte seufzte,

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