Der verbotene Fluss
verschluckten Gegenständen kann es sich als lebensrettend erweisen.«
»Haben Sie eine Vorstellung, woher diese Flasche stammen könnte?«
Er drehte sie in den Händen und hielt sie nahe ans Gesicht, um die Unterseite zu betrachten.
»Ich bin mir nicht sicher. Es gibt eine Apotheke in Reigate, die solche Gläser verwendet. Dort könnten Sie nachfragen.«
»Danke, Sie haben mir sehr geholfen.«
»Darf ich fragen, woher Sie kommen?«
In diesem kleinen Ort war eine Lüge zwecklos, daher stellte sie sich kurz vor. »Ich habe die Flasche bei einem Spaziergang gefunden und wollte nur wissen, was sie enthält.«
Der Apotheker sah sie besorgt an. »Das ist gefährlich, so etwas muss man unterbinden. Kinder könnten sie aufheben. Wo genau haben Sie sie gefunden?«
Sie erkannte ihren Fehler und reagierte geistesgegenwärtig. »Ach, das war nach meiner Ankunft in Dover. Ich habe sie eingesteckt und jetzt erst in meiner Tasche wiedergefunden.«
Der Apotheker streckte die Hand aus. »Soll ich den Inhalt für Sie vernichten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Ich kümmere mich selbst darum.«
Charlotte zog ihre Geldbörse hervor. Er rechnete die Einkäufe zusammen und nahm das Geld entgegen, wobei er sie argwöhnisch anschaute. Als sie die Apotheke verließ, spürte sie seinen Blick im Rücken.
Charlotte hatte sich den Weg zum Friedhof eingeprägt; zum Glück besaß sie einen guten Orientierungssinn. Noch war es hell, den Tee konnte sie später trinken. Sie hoffte, die alte Frau noch einmal anzutreffen, doch zu ihrer Enttäuschung fand sie den Friedhof verlassen vor. Also drehte sie nur eine kurze Runde und blieb vor Lady Ellens Grab stehen.
Wenn ich nur einmal mit dir sprechen könnte … Ich hätte so viele Fragen. Warum hast du dein Kind im Stich gelassen, nachdem du dich immer so liebevoll darum gekümmert hast? Was bringt eine Mutter dazu, so etwas zu tun?
Sie erinnerte sich an Sir Andrews Worte. Und sie sprach von einem Brief, den ihre Mutter ihr hinterlassen habe. Es konnte nur ein Abschiedsbrief gewesen sein. Doch wenn er ihn seiner Tochter nie gezeigt hatte, was durchaus verständlich war, da er ihren Schmerz nicht noch vergrößern wollte – wie hatte sie davon erfahren? War es denkbar, dass sie vom Selbstmord ihrer Mutter wusste? Hatte Lady Ellen in irgendeiner Weise angekündigt, dass sie fortgehen und ihrer Tochter einen Brief hinterlassen werde?
Charlotte stand da und starrte auf das Grab und spürte eine Lähmung wie an jenem Abend, als sie die Geräusche auf der Wendeltreppe gehört und es nicht über sich gebracht hatte, die Tür zu öffnen. Urplötzlich kam ein kalter Wind auf und strich über das Gras zwischen den Steinen, als wäre es die See, beugte es nieder, bis die Luft sich beruhigte und die Halme sich wieder aufrichteten.
Sie erwachte wie aus einem Traum und spürte die Kälte, die durch ihren Mantel drang. Sie stand vor einem leeren Grab und sprach zu einer Frau, deren Körper sich irgendwo in den Fluten zwischen Nicols Field und der Themse verloren hatte.
Endlich fand Charlotte die Kraft, sich umzudrehen und rasch zum Friedhofstor zu gehen.
Die Wärme der Teestube umfing sie wie ein schützender Kokon, und die Schwestern Finch begrüßten sie wie eine alte Freundin. Sie boten ihr einen Platz an, empfahlen Tee und frischen Früchtekuchen und umsorgten sie, dass es ihr fast schon unangenehm war. Die übrigen Gäste warfen ihr neugierige Blicke zu, die sie ungerührt erwiderte. Mittlerweile gab sie nichts mehr auf die Meinung anderer; ihr war es gleichgültig, ob Sir Andrew von ihren Erkundigungen erfuhr. Es gab so viel, das sie nicht wusste, und Fragen, die er niemals freiwillig beantworten würde … Da musste sie die Antworten eben woanders suchen.
»Wo haben Sie denn die reizende Emily gelassen?«, fragte Ada Finch, als sie das Tablett mit Tee und Kuchen auf den Tisch stellte.
»Ich hatte heute einiges zu erledigen, das hätte sie gelangweilt. Wir werden demnächst wieder zusammen herkommen.«
»Wir würden uns freuen.« Miss Ada zögerte kurz. »Leider gab es beim letzten Mal diesen unglückseligen Zwischenfall, aber wir werden die alte Tilly nicht mehr hereinlassen. Mich wundert ohnehin, dass sie überhaupt noch den Weg von Mickleham hierher schafft.«
»Ich bin ihr kürzlich dort begegnet«, entgegnete Charlotte. »Sie ist wirklich sehr verwirrt, aber einiges, was sie sagte, schien der Wahrheit zu entsprechen. Sie sprach sehr liebevoll von Emilys Mutter.«
Miss
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