Der verbotene Fluss
nahm den Brief aus der Rocktasche und legte ihn zu dem Kissen und den Bonbons auf Emilys Schoß. »Bitte. Er gehört dir.«
»Aber Sie haben ihn gelesen.«
»Es tut mir leid, aber wir haben uns Sorgen gemacht, das musst du doch verstehen, Emily. In diesem Haus geschehen Dinge, die nicht gut sind.«
»Wieso ist es nicht gut, wenn meine Mutter wiederkommt?«
Charlotte überlief es kalt. Sie spürte die Veränderung, die sich in dem Mädchen vollzog, ein allmähliches Hinübergleiten in eine Welt, in die sie ihr nicht folgen konnte. Immer offener erwähnte sie ihre Mutter, immer durchlässiger schien die Grenze zwischen der Wirklichkeit und etwas Unbenennbarem zu werden.
Emily, deine Mutter ist tot. Sie brachte die Worte nicht über die Lippen.
»Warum hast du diesen Brief geschrieben?«
Das Mädchen schaute sie immer noch nicht an und zerbiss geräuschvoll das Bonbon.
»Emily, sag es mir bitte.«
Sie rutschte auf dem Sofa herum, wobei die Bonbontüte herunterfiel. Charlotte legte sie auf einen Beistelltisch.
»Ich dachte, sie kommt wieder, wenn ich ihr schreibe. Und ich hatte recht.«
Charlotte spürte, wie etwas Heißes in ihr emporstieg. Es war ein Irrtum, dass sich Angst kalt anfühlte.
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ich habe angefangen zu schreiben, und dann hatte ich das Gefühl, dass sie da ist. Sie war im Garten. Ich habe sie gesehen.«
»Wo denn?«
Emily schwieg, als wollte sie nicht zu viel preisgeben und den Schwebezustand zwischen Wunsch und Wirklichkeit bewahren.
Charlotte drückte vorsichtig ihre Schulter, doch das Mädchen wollte sie noch immer nicht anschauen.
»Sonst ist sie nur nachts gekommen. Aber sie hat gemerkt, dass ich mich freue, wenn sie da ist. Also besucht sie mich jetzt auch tagsüber.«
Charlotte schloss die Augen. Am liebsten wäre sie aus dem Zimmer gelaufen, weil sie sich so hilflos fühlte. Sie fürchtete, Emily erneut zu verschrecken, wenn sie ihre Erlebnisse als Träume oder Wunschvorstellungen abtat.
Sie verspürte den dringenden Wunsch, mit Sir Andrew zu sprechen und ihm zu sagen, dass er um jeden Preis einen dieser Geisterjäger oder was immer sie auch sein mochten ins Haus holen musste. Sie konnte nicht mitansehen, wie ein Kind, das körperlich scheinbar völlig gesund war, den Verstand verlor – weil es um seine Mutter trauerte, die zu lange totgeschwiegen worden war, oder aus anderen dunklen Gründen, die sich ihrem Verständnis entzogen. Ihr kam das Shakespeare-Zitat von den Dingen zwischen Himmel und Erde in den Sinn, und sie sehnte Sir Andrews Rückkehr geradezu herbei.
Doch sie musste auf der Stelle handeln, in diesem Augenblick, statt Emily noch länger anzuschweigen. Sie holte tief Luft und spürte, wie sie innerlich ruhiger wurde. Es hatte keinen Sinn, rationale Einwände gegen Emilys Geschichten vorzubringen; da mit würde sie das Mädchen nur verschrecken.
»Ich verstehe. Du hast sie also im Garten gesehen.«
Endlich wandte sich Emily ihr zu. »Nein. Sie war im Garten. Man kann auch Dinge sehen, die nicht da sind, weil man sie nur in seinen Gedanken sieht. So wie wenn Sie mir ein Märchen vorlesen und ich mir alles vorstelle.«
Charlotte seufzte. Dieses Kind war ebenso klug wie hartnäckig.
»Na schön. Und dann bist du vor Nora weggelaufen, weil sie den Brief lesen wollte.«
»Genau.«
»Was macht der Fuß?«
»Er tut weh. Aber es wird schon besser. Ich glaube, er ist nicht gebrochen. Es hat nicht geknackt.«
Emily sprach jetzt in einem leichteren Ton, als beruhigte es sie, dass die Gouvernante ihr Glauben schenkte.
»Welcher Arzt hat dich eigentlich früher behandelt, wenn du krank warst?«
»Dr. Pearson aus Reigate. Aber er ist irgendwann nicht mehr gekommen.«
»Hast du einen neuen Arzt?«
Emily zuckte mit den Schultern. »Ich war schon länger nicht krank. Der Fuß wird schon wieder. Sie müssen keinen Arzt rufen.«
Vielleicht erinnerte sie sich nicht gern an die vielen Untersuchungen, die sie früher über sich hatte ergehen lassen müssen, dachte Charlotte. Wer konnte schon sagen, was genau sie als kleines Kind alles durchgemacht hatte! Sie schlug die Wickel vorsichtig auseinander. Der Knöchel war stark geschwollen. »Versuche einmal, den Fuß zu bewegen.«
Emily drehte ihn kaum merklich hin und her. »Es tut weh, aber nicht mehr so sehr wie vorhin.«
Charlotte beschloss, das Mädchen vorerst weiter mit den Um schlägen zu behandeln, da auch sie nicht an einen Bruch glaubte.
»Weißt du, wann dein Vater
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