Der verbotene Fluss
sonst. Die Nacht war unruhig gewesen, da sie mehrfach aus absurden Träumen hochgeschreckt war, in denen lebende Bäume knorrige Arme nach ihr ausstreckten oder Wurzeln aus der Erde schoben, um sie ins Stolpern zu bringen. Sie stopfte sich ein zweites Kissen unter den Kopf und schaute zum Fenster, an dem der Regen in langen Schlangenlinien hinunterrann.
Mit dem Waldspaziergang würde es wohl vorerst nichts werden. Um ihre irrationale Angst vom Vorabend zu vertreiben, hatte sie sich vorgenommen, bei Tageslicht zum Mole zu gehen, doch das Wetter machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie. Oft waren die Dinge bei Tag klarer und einfacher, doch diesmal konnte das Licht keine Wunder wirken. Zu viel war geschehen. Sie begann an ihrem gesunden Menschenverstand zu zweifeln, und das behagte ihr gar nicht.
Was war denn eigentlich geschehen? Emily hatte geglaubt, ihre Mutter im Garten zu sehen, und ihr daraufhin einen Brief geschrieben, der nicht für fremde Augen bestimmt war. Als Nora ihn an sich nehmen wollte, war sie in Panik geraten. All das war rational zu erklären – und letztlich auch die Angst, die Charlotte allein im Wald empfunden hatte. Die bedrückende Atmosphäre im Haus trug dazu bei; vielleicht waren es die Nachwirkungen der Märchen, die sie Emily erzählt hatte, in denen Wälder Zuflucht boten und zugleich Gefahr bedeuteten, Rettung, aber auch Verderben verhießen.
Heute wurde Sir Andrew zurückerwartet. Gut, dachte Charlotte. Es wurde Zeit. Sie stand auf, wusch sich und suchte Kleidung für den Tag heraus. Sie wählte einen blauen, leicht ausgestellten Rock mit enger Taille, eine weiße Bluse und eine passende blaue Jacke. Nicht ganz so schlicht wie üblich. Sie wollte ihrem Arbeitgeber selbstbewusst gegenübertreten, falls er sie wegen des neuerlichen Zwischenfalls zur Rede stellte.
Sie zog sich an, frisierte sorgfältig die Haare und ging zu Emily, die inzwischen aufgewacht war.
»Was macht dein Fuß?«
»Schon besser. Wenn ich mich abstütze, kann ich ein bisschen auftreten.«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Tritt lieber nicht auf, sonst schwillt er wieder an. Du solltest dich noch schonen. Freust du dich, deinen Vater zu sehen?«
»Ja. Ich möchte heute gern weiter an seinem Geschenk sticken.«
»Das freut mich.« In diesem Augenblick hörte sie eine Männerstimme von unten und schaute unwillkürlich zur Tür. »Ich schicke deinen Vater gleich zu dir, dann kannst du ihn be grüßen.«
Charlotte begab sich mit klopfendem Herzen nach unten, da sie nicht wusste, wie er auf die Nachricht von Emilys Verletzung reagieren würde.
Sir Andrew stand mit Mrs. Evans in der Halle und schaute ihr gelassen entgegen.
»Guten Morgen, Fräulein Pauly. Wie ich hörte, hat es gestern einen Unfall gegeben.«
Charlotte holte tief Luft.
»Ja, Sir Andrew. Zum Glück geht es Emily schon besser, der Fuß ist etwas abgeschwollen. Wenn Sie zu ihr gehen möchten –sie steht gerade auf.«
Er warf Mrs. Evans einen Blick zu. »Wie gesagt, wir haben einen Gast zum Tee und zum Abendessen.«
Sie knickste und verschwand in Richtung Küche.
»Kommen Sie bitte mit in die Bibliothek.«
Charlotte folgte ihm schweigend und nahm in dem angebotenen Sessel Platz, bevor sie Sir Andrew anschaute. »Ich würde gern erklären, was gestern passiert ist.«
»Gewiss. Aber ich habe Ihnen zunächst eine Ankündigung zu machen. In London habe ich mit einem Herrn korrespondiert, den mir Dr. Sidgwick von der Society for Psychical Research empfohlen hat. Er wird den Elf-Uhr-Zug nehmen und im Star and Garter Hotel in Dorking absteigen. Ich erwarte ihn heute Nachmittag zum Tee. Er wird sich in den nächsten Tagen mit Emily beschäftigen. Ich möchte, dass Sie ihm jederzeit zur Verfügung stehen, wenn er Hilfe benötigt oder Sie befragen will.«
Charlotte nickte. »Selbstverständlich. Darf ich fragen, ob er Arzt ist?«
»Nein, aber Dr. Sidgwick hat ihn sehr empfohlen.«
Da war er wieder, der kühle Ton, den sie inzwischen so gut kannte. Doch sie ließ sich nicht beirren und schilderte knapp und sachlich, was am Vortag geschehen war.
Sir Andrew sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wie erklären Sie sich diesen Vorfall?«
»Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Erklärung dafür.« Sie zögerte. »Ich bin noch am Abend in den Garten gegangen, um nachzusehen, ob irgendwelche Spuren zu finden waren. Ich konnte nichts entdecken. Allerdings liegt dort eine dicke Laubschicht, auf
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