Der verbotene Fluss
hinauf.
Charlotte ging auf den Vorplatz, wo Wilkins schon mit dem Wagen wartete. Sie stieg ein, und bald darauf rollten sie die Crabtree Lane entlang.
Sie atmete tief durch. Zum ersten Mal seit Tagen hatte sie das Gefühl, klar und ungehindert denken zu können. Die Atmosphäre im Haus machte ihr zunehmend zu schaffen: das Wissen um die Geheimnisse, die sich unter der scheinbaren Normalität verbargen. War Sir Andrew nur zu den Parlamentssitzungen nach London gefahren, oder zog er weitere Erkundigungen ein? Was war aus seinem Vorhaben geworden, diese Society for Psychical Research hinzuzuziehen? Viele Fragen und niemand, der sie ihr beantworten konnte.
Sie klopfte gegen das Dach der Kalesche, um Wilkins auf sich aufmerksam zu machen. »Ich weiß nicht, wie lange ich brauchen werde.« Eigentlich wollte sie nur eine menschliche Stimme hören.
»Keine Sorge, Miss, ich habe auch einige Besorgungen zu ma chen. Sie können sich ruhig Zeit lassen«, erwiderte der Kutscher.
Danach fuhren sie schweigend weiter. Charlotte ließ sich vor der Apotheke absetzen.
»Ich warte später vor dem Bahnhof, den kennen Sie ja.«
Sie nickte und schaute dem davonrollenden Wagen nach, bis er um eine Ecke gebogen war.
Die Türglocke läutete melodisch, als sie in den dämmrigen Verkaufsraum mit den wunderschönen deckenhohen Schränken trat. Kleine Schubladen mit säuberlich beschrifteten Schildern und Regale, in denen eine Vielzahl an Gläsern und Porzellandosen mit lateinischer Beschriftung stand. Auf der Theke sah sie Mörser und Waagen, einen Holzständer mit Hustenbonbons und Fruchtpastillen in kleinen Tüten, die vermutlich die Kinder von Dorking anlocken sollten. Es roch nach Seife, Arzneien und Kräutern, eine üppige Mischung unterschiedlichster Aromen, die wie eine unsichtbare Wolke im Raum hing.
Sie war gerade an die Theke getreten, als ein klein gewachsener älterer Herr mit weißen Haaren und Spitzbart aus einem Hinterzimmer kam und sich die Hände an einem Tuch abwischte. Er setzte den goldenen Kneifer auf, den er an einer Kette um den Hals trug, und spähte zu ihr herauf.
»Guten Tag, Madam. Was kann ich für Sie tun?« Er sah sie neugierig an. Als Apotheker kannte er vermutlich ganz Dorking und wusste sofort, dass sie fremd in der Stadt war.
»Ich hätte gern Baldriantropfen.«
»Gewiss.«
Er bückte sich, holte unter der Theke eine braune Glasflasche hervor und stellte sie vor Charlotte hin. »Ist diese Größe recht?«
»Ja.«
»Die Anwendung ist bekannt?«
»Danke, ja.«
Der Apotheker schaute sie immer noch erwartungsvoll an. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»In der Tat. Ich brauche ein kleines Geschenk für ein Mädchen. Können Sie mir etwas empfehlen?«
Der Apotheker überlegte und nickte dann. »Diese Duftkissen sind sehr beliebt.« Er zeigte ihr ein kleines, nach Lavendel riechendes Kissen aus geblümtem Stoff.
»Gut, das nehme ich, und eine Tüte von den Fruchtbonbons. Ach, da wäre noch etwas …«
Charlotte griff in die Manteltasche und legte einen Gegenstand auf die Theke, der in ein Taschentuch gewickelt war. Sie schlug das Tuch auseinander und hielt dem Apotheker das durchsichtige Glasfläschchen hin. »Können Sie mir sagen, was das ist?«
Er nahm es entgegen. »Erst einmal kann ich Ihnen sagen, dass es nicht von mir stammt. Meine durchsichtigen Flaschen sind eckig, nicht rund wie diese. Kein Etikett. Nun, das könnte sich gelöst haben. Darf ich?«
Auf Charlottes Nicken zog er den Stöpsel ab, gab einige der weißen Körnchen auf seine Handfläche und leckte daran. Ein zufriedener Blick trat in sein Gesicht.
»Wie ich vermutet habe. Kaliumantimonyltartrat.«
Charlotte sah ihn fragend an. »Und was genau ist das?«
»Im Volksmund nennt es sich Brechweinstein, ein beliebtes Emetikum. Ein Brechmittel. Man verabreicht es beispielsweise bei Vergiftungen, aber auch bei Katarrhen oder Erregungszuständen. Äußerlich soll es den Haarwuchs fördern, wobei diese Ansicht unter Fachleuten mittlerweile umstritten ist.«
»Können Sie mir sagen, ob man so etwas in der gewöhnlichen Hausapotheke bereithält?« Aus Deutschland kannte sie es jedenfalls nicht.
Der Apotheker schüttelte den Kopf. »Nein, es ist gewiss nicht in jedem Haushalt zu finden und darf nur nach ärztlicher Verordnung angewendet werden. Schon eine geringe Menge führt zu starkem Erbrechen und kann Übelkeit und Schwindel auslösen. In abgelegenen Gebieten ist es ratsam, es für Notfälle im Hause zu haben. Bei
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