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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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ließ den Blick dann unwillkürlich in Richtung Bibliothek wandern.
    »Komme ich zu spät zum Tee?«, fragte Charlotte, die keine Uhr bei sich hatte.
    »Nein, Miss, es ist noch Zeit. Sir Andrew hat Besuch. Ich soll Sie dazubitten, sobald Sie kommen.«
    Charlotte eilte in ihr Zimmer, um ihre Frisur zu richten. Dann stellte sie die schmutzigen Stiefel vor die Zimmertür, strich sich Rock und Bluse glatt und ging gemessenen Schrittes nach unten.
    Vor der Bibliothek hielt sie inne. Von drinnen waren Stimmen zu hören, Sir Andrews und eine andere tiefere Männerstimme. Sie klopfte an.
    »Herein.«
    Sir Andrew stand an einem Regal und nickte zur Begrüßung. Der andere Mann hatte sich aus seinem Sessel erhoben.
    »Dies ist Fräulein Pauly, die Gouvernante meiner Tochter. Fräulein Pauly, darf ich Ihnen Mr. Thomas Ashdown aus London vorstellen?«
    Er war nicht sehr groß und trug einen Gehrock in einem dunklen Violett, was man bei einem Mann als durchaus exzentrische Farbwahl bezeichnen konnte. Seine dunkle Weste war mit silbernen Streifen durchwirkt, ergänzt durch ein blütenweißes Hemd mit einer schwarzen Krawatte. Das dunkle Haar, in dem einige weiße Fäden schimmerten, war recht lang und an der Seite gescheitelt. Das Außergewöhnlichste waren seine Augen – dunkel, mit schwarzen Brauen und langen Wimpern, und sie blickten so eindringlich, als würde ihnen nie etwas entgehen. Kein unangenehmer Blick, dachte Charlotte, aber eine Herausforderung.
    »Sehr erfreut.« Seine Stimme war tief und wohlklingend.
    Sie ergriff seine Hand. »Die Freude ist meinerseits, Mr. Ashdown.«
    Sir Andrew deutete auf einen Sessel für sie, woraufhin alle drei Platz nahmen.
    »Mr. Ashdown ist im Auftrag von Dr. Sidgwick hergekommen und wird hoffentlich herausfinden, worunter Emily leidet.«
    Der Gast schlug die Beine übereinander und schaute von einem zum anderen. »Ihr Vertrauen ehrt mich, aber ich möchte Sie bitten, keine übertriebenen Erwartungen in mich zu setzen. Dr. Sidgwick verfügt über sehr viel größere Erfahrungen und Fachkenntnisse als ich. Ich verlasse mich vor allem auf meinen gesunden Menschenverstand.«
    Charlotte bemerkte bei Sir Andrew einen Anflug von Unwillen, doch dann nickte er.
    »Wenn Dr. Sidgwick Sie zu uns geschickt hat, muss er von Ihrem Können überzeugt sein.«
    »Dr. Sidgwick und seine Kollegen arbeiten für gewöhnlich nur mit Erwachsenen«, erklärte Mr. Ashdown. »Zum ersten Mal ist ein Kind Gegenstand der Untersuchung, und er fürchtete, dass die übliche Vorgehensweise vielleicht zu streng oder befremdlich wirken könnte. Daher bat er mich, mir die Lage hier vor Ort anzuschauen und mir ein Urteil zu bilden.«
    »Verstehe. Ohne Ihnen zu nahetreten zu wollen, hoffe ich doch, dass Sie erfahren genug sind, um rücksichtsvoll mit meiner Tochter umzugehen.«
    Mr. Ashdown lächelte, wobei sich sein Gesicht völlig verwandelte. »Lassen Sie mich erklären, wie ich vorgehen möchte. Am besten, Sie schildern mir zunächst aus Ihrer Sicht, was geschehen ist. Dann werde ich Ihnen und Fräulein Pauly Fragen stellen. Und erst dann unterhalte ich mich mit Ihrer Tochter. Ich werde sie keinerlei Experimenten unterziehen und ihr keine Angst einjagen. Das verspreche ich Ihnen.«
    Seine Worte klangen so warm wie seine Stimme, und Sir Andrews Unbehagen schien nachzulassen.
    Dann wandte sich Mr. Ashdown an Charlotte. »Natürlich bin ich sehr an Ihrer Sicht interessiert, da Sie als Außenstehende manches vielleicht objektiver beurteilen. Elterliche Liebe ist wunderbar, aber sie kann bisweilen den Blick verstellen.«
    Der Mann wirkte selbstsicher und nahm kein Blatt vor den Mund, obwohl er vorhin seine eigenen Fähigkeiten heruntergespielt hatte.
    »Gut«, sagte Sir Andrew und räusperte sich. »Einverstanden. Es ist eine heikle Angelegenheit, daher muss ich Sie bitten, über alles, was Sie in diesem Haus erfahren, strengstes Stillschweigen zu wahren. Es wäre unerträglich, wenn etwas darüber – nach außen gelangte. Mein Ruf steht auf dem Spiel.«
    »Dessen bin ich mir bewusst, Sir«, erwiderte Mr. Ashdown, wobei Charlotte einen Hauch von Ironie in seiner Stimme zu erkennen meinte. Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu, doch seine Miene war unergründlich.
    Sir Andrew schloss das Gespräch mit den Worten: »Fräulein Pauly, Sie können jetzt zu Emily gehen.«
    Sie erhob sich umgehend. »Natürlich. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, Mr. Ashdown.«
    Bevor sie die Tür erreicht hatte, war Mr. Ashdown

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