Der verbotene Fluss
der Schuhe keine Abdrücke hinterlassen hätten.«
Sobald sie es ausgesprochen hatte, erkannte sie ihren Fehler. Seine Hand, die auf der Tischplatte ruhte, ballte sich zur Faust.
»Was wollen Sie damit andeuten? Dass jemand ums Haus schleicht und meiner Tochter Angst einjagt? Das halte ich für Unsinn. Außerdem erklärt es nicht, weshalb Emily ihre Mutter nachts zu sehen oder zu hören meint.«
Charlotte senkte den Blick und betrachtete ihre Füße, die unter dem blauen Rock hervorlugten. Beinahe kam es ihr vor, als wünschte Sir Andrew gar keine rationale Erklärung.
Er erhob sich. »Ich werde den Morgen mit meiner Tochter verbringen. Halten Sie sich heute Nachmittag bitte bereit.«
Er lieferte keine nähere Erklärung, sondern hielt ihr die Tür auf, und sie begaben sich schweigend ins Speisezimmer, wo Emily gerade ein Schiffchen aus ihrer Serviette faltete. Als sie ihren Vater sah, wollte sie aufspringen, verzog aber das Gesicht, als sie den Fuß belastete. Sir Andrew eilte hin und hob sie auf den Arm. Endlich, dachte Charlotte.
Sie zog sich zurück, sobald es die Höflichkeit zuließ, und ging in ihr Zimmer. Dort las sie eine Weile, korrigierte einen gelungenen englischen Aufsatz, den Emily verfasst hatte, und bereitete den Unterricht für die nächsten Tage vor.
Bei einem Blick aus dem Fenster stellte sie fest, dass es aufgehört hatte zu regnen. Also zog sie den Mantel an, dazu eine Wollmütze und einen Schal, und begab sich nach unten. Von der Köchin ließ sie sich einige Brote als Mittagsimbiss einpacken und erklärte, sie werde einen längeren Spaziergang unternehmen.
Draußen schaute sie sich um, ob keiner der Dienstboten sie beobachtete, und ging rasch durch den Garten zur Mauer. Bei Tag sah alles friedlich aus, und die Angst, die sie empfunden hatte, erschien ihr so fremd, als hätte eine andere Frau sie durchlebt. Sie öffnete das Tor und trat in den Wald. Obwohl es zwischen den Bäumen grau und düster war, konnte sie seinen besonderen Reiz erkennen.
Wenngleich die Panik vom vergangenen Abend jetzt unverständlich schien, war es doch ein einsamer Spaziergang, und Charlotte fragte sich, ob der Wald immer so still war. Vielleicht lag es auch nur an der Jahreszeit – bei nassem, feuchtkaltem Wetter war ein Kaminfeuer verlockender. Als sie ein leises Rauschen hörte, bog sie nach rechts ab und folgte dem Geräusch. Kurz darauf stand sie am Ufer des Mole, der durch die Regenfälle der letzten Zeit viel Wasser führte. Die kahlen Äste der Bäume, die ihn säumten, wölbten sich wie ein schützendes Dach über das Wasser.
War dies die Stelle, an der Lady Ellen in den Fluss gestürzt war – oder sich hineingestürzt hatte? Das Wasser war dunkel, beinahe schwarz, weil sich keine weißen Wolken und kein Sonnenlicht darin spiegelten.
Auf einmal wurde es Charlotte kalt, und sie wandte sich vom Fluss ab. Sie merkte sich einige markante Bäume – sie hätte Brotkrumen mitnehmen sollen wie Hänsel und Gretel, dachte sie beiläufig – und ging nach rechts, wo sich der Wald ein wenig lichtete. Dieser Teil wirkte freundlicher und war im zartgrünen Frühjahrskleid sicher sehr hübsch. Sie versuchte, sich das junge Laub vorzustellen, Blumen zwischen den Wurzeln, Vogelgezwitscher. Doch selbst ihre Fantasie konnte die tiefe Stille nicht vertreiben.
Charlotte schlug einen schmalen, von Baumwurzeln durchsetzten Pfad ein, der steil anstieg. Plötzlich spürte sie, wie sich die Atmosphäre veränderte. Rechts von ihr lag ein tiefes Tal, das der Pfad wie ein schützender Arm umfing. Die Eibe, die sie in der Nähe des Gartentores entdeckt hatte, war nur ein Vorgeschmack auf die Bäume gewesen, die hier den Weg säumten. Sie wirkten exotisch, als hätte man sie aus einem fernen Märchenland in diesen englischen Wald verpflanzt; ihre Wurzeln wölbten sich hoch über der Erde wie Adern, die sich aus der Haut eines sehr alten Menschen erheben.
Sie blieb stehen und schaute ins Tal hinunter. Was sie empfand, war nicht Angst, sondern Ehrfurcht, das Gefühl, an einem besonderen Ort zu stehen. Die Stille wirkte geradezu feierlich.
»Sie werden schon im Domesday Book erwähnt. Es heißt, in noch früherer Zeit hätten sich Druiden hier versammelt.«
Noch nie im Leben hatte sie sich so erschreckt. Sie fuhr herum, und ihr Herz klopfte laut.
Vor ihr stand ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit wettergegerbtem Gesicht und grauem Bart. Über der Schulter trug er ein Jagdgewehr und betrachtete sie mit freundlichem
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