Der verbotene Garten
dem Dach unseres alten Heims. Ich lehnte mich an Ziegel und Mörtel, um mich in der kalten Herbstnacht ein wenig warmzuhalten. Ich hätte dort nicht bleiben dürfen, doch ich fand es tröstlich, dem Ort meiner Kindheit nah zu sein. Früher hatte mir Mama oft erlaubt, im Sommer auf dem Dach zu zelten. Ich hatte mir eine Matratze aus Stapeln alter Zeitungen gebaut und zum Schutz ein Laken über einen Draht gehängt. Ich wusste, wo sich die Griffe im Mauerwerk der Seitenwand befanden und welche Steine lose waren. Ich wusste, wo man die Feuertreppe anpacken musste, um bis ganz nach oben zu gelangen.
Auf dem Dach des Nachbargebäudes entdeckte ich ein Holzfass. Ich legte eine lose Planke über den schmalen Spalt zwischen den Dächern und rollte das Fass an meinen Schlafplatz. Dann stützte ich es von beiden Seiten mit Ziegeln ab und machte mir im Innern ein Nest, legte den Boden mit Zeitungen und muffigen Jutesäcken, die ich im Müll gefunden hatte, aus. Auf dem Dach herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, meist waren es Jungs, die einen ruhigen Platz zum Schlafen suchten. Mein Messer war nicht scharf genug, um jemanden wirklich zu verletzen, und so holte ich mir zur Sicherheit ein Brett heran, aus dessen Ende drei Nägel hervorstachen. Ich taufte es Stolz und konnte nur hoffen, dass ich davon noch etwas finden würde, ehe ich zugrundeging.
Morgens setzte ich mich an den Dachrand und wartete darauf, dass sich in dem Müll, der aus den Eimern entlang der StraÃe quoll, irgendetwas regte. Ich spielte Ratespiele mit mir selbst: Ratte, Katze oder Baby? Sogar auf gröÃere Entfernung erriet ich ziemlich gut, was im Innern einer Tonne war. Ratten wieseln und kriechen herum, doch werden sie erschreckt, stellen sie sich tot. Katzen sind hartnäckig. Sie wühlen, Pause, wühlen, Pause. Kleine Kinder klettern gewöhnlich sofort in den Müll, wenn sie etwas Lohnenswertes sehen. Kommen sie dann nicht heran oder finden aus der Tonne nicht wieder heraus, gibt es groÃes Geschrei und Geheul.
Tagsüber bettelte ich auf der Bowery, die nur einen kurzen FuÃmarsch von der Chrystie Street entfernt lag. Mama hatte mich immer von dort ferngehalten, dies sei der falsche Ort nicht nur für Mädchen, sondern für jedermann. »Wer da mit Geld in der Tasche hingeht, kommt in jedem Fall mit leerer Tasche wieder.« Aber ich hatte kein Geld, und daher ängstigten mich weder die Diebe noch die Verlockungen der Bowery.
Jedes Gebäude hier war grell und laut: Tanzpaläste gab es, drittklassige Hotels, Varietétheater, Musikhallen und allerlei anderen Zeitvertreib. In offenen SchieÃbuden warteten Schattenfiguren, Mann oder Tier, unter gestreiften Markisen auf einen Blattschuss. Eine besonders beliebte Bude bot einen Papplöwen als Attraktion, der bei jedem tödlichen Treffer furchtbar brüllte. Hier war es immer voll, hier standen die barfüÃigen Jungs in Scharen Schlange, um ihr Glück an der knurrenden Bestie zu versuchen. Trafen sie ins Schwarze, war ein schimmerndes Messer ihr Lohn.
Zerlumpte Leierkastenspieler beschimpften ihre Affen, weil sie zu viel schnatterten. Auf den Treppen saÃen traurige Jungs mit Banjos oder Harfen, zupften an einer Saite herum und hielten den Passanten ihren Hut entgegen. »Kleingeld, Sir? Vielleicht ein Penny?« Ein alter Mann spielte auf der Fiedel und tanzte wild dazu. Er hatte die Augen zugekniffen und gab den Blinden. Er konnte fast alles spielen, was sich die Passanten wünschten, und seine eine Fiedel klang wie zehn. War ein Stück beendet, sprach er mit sich selbst, lachte und grinste weich und fleischig â er hatte nicht einen Zahn im Mund. Wenn irgendjemand Mildtätigkeit verdiente, dann wohl er. Sollte ich einmal so viel Geld haben, dass ich etwas entbehren könnte, dann wollte ich ihm wenigstens einen Vierteldollar in den Hut legen.
Um erfolgreich zu betteln, braucht man das gleiche Maà an Verzweiflung wie an Mut. Die meisten Passanten glauben, dass ein Bettler von Natur aus faul ist und bei jedem Penny ein heimliches Gefühl von Ãberlegenheit und Schadenfreude verspürt. Ach, wäre das nur wahr! Auf der Bowery gab es so viele verschiedene Bettler, wie es Plätze vor Geschäften gab, und jeder â ob Mann, Frau oder Kind â versuchte bloÃ, sich von einem Tag zum andern durchzuschlagen.
Es waren einsame GroÃmütterchen darunter, denen es noch elender erging als
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