Der verbotene Ort
Alle waren sie darin eingeschlossen, alle stumm, alle fern von der Welt.«
»Er meinte, dass jemand ihn dort eingeschlossen hielte?«
»Nein, Sie verstehen nicht. Vaudel hatte sich selbst dort eingeschlossen, er hatte sich willentlich versteckt, vor dem Blick der anderen verborgen. Er beschützte die im Verlies Eingeschlossenen.«
»Vor dem Tod?«
»Vor der Vernichtung. Es gab noch drei andere auffällige Dinge an ihm: Er hing auf besessene Weise an seinem Namen, seinem Familiennamen. In seiner Beziehung zu seinem Sohn war er zerrissen zwischen Stolz und Ablehnung. Er liebte Pierre, aber er hätte gewollt, dass er nicht existiert.«
»Er hat ihm nichts vererbt, er hat testamentarisch alles dem Gärtner vermacht.«
»Logisch. Wenn er nichts vererbt, bedeutet das, er hat keinen Sohn.«
»Ich denke nicht, dass Pierre es in diesem Sinne verstanden hat.«
»Bestimmt nicht. Und schließlich besaß Vaudel einen grenzenlosen Hochmut, einen so totalen, dass er ein Gefühl von Unbesiegbarkeit in ihm erzeugte. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Sehen Sie, so was kann Ihnen der Arzt sagen, und Sie verstehen, warum mir sehr viel an diesem Patienten lag. Aber Vaudel war stark, er setzte meinen Behandlungen heftigen Widerstand entgegen. Er duldete, dass ich ihm einen Tortikollis oder eine Verstauchung behob. Er hat mich sogar bewundert, als ich ihn von seinen Schwindelanfällen befreite und eine beginnende Taubheit kurierte. Hier«, meinte er überflüssigerweise und tätschelte sein Ohr, »die Gehörknöchelchen im Mittelohr waren ineinander verkeilt wie in einem Schraubstock. Aber er hasste mich, sobald ich mich dem schwarzen Verlies näherte und den Feinden, die ihn umzingelten.«
»Wer waren diese Feinde?«
»Alle, die darauf aus waren, seine Macht zu zerstören.«
»Fürchtete er sie?«
»Einerseits so sehr, dass er keine Kinder haben wollte, um sie nicht der Gefahr auszusetzen. Andererseits überhaupt nicht, aufgrund ebenjenes Überlegenheitsbewusstseins, von dem ich Ihnen erzählte. Und dieses Bewusstsein erfüllte ihn schon zu der Zeit, als er sich noch mit der Justiz beschäftigte, als er über Leben und Tod anderer entschied. Doch Vorsicht, Kommissar, was ich Ihnen da beschreibe, ist nicht die Wirklichkeit, sondern seine Wirklichkeit.«
»War er verrückt?«
»Total verrückt, wenn man unter ›verrückt sein‹ versteht, nach der Logik einer Welt zu leben, die nicht die Logik der Welt ist. Doch überhaupt nicht verrückt von dem Augenblick an, wo er – innerhalb seiner Organisation – rigoros und kohärent vorging und sie mit den minimalen Regeln der allgemeinen gesellschaftlichen Ordnung in Übereinstimmung zu bringen verstand.«
»Hatte er herausgefunden, wer seine Feinde waren?«
»Das wenige, was er darüber sagte, erinnerte an einen primitiven Bandenkrieg, eine nicht enden wollende Vendetta. Mit einer Art Schlüsselmacht.«
»Kannte er ihre Namen?«
»Bestimmt. Es handelte sich nicht um wechselnde Feinde, um flüchtige Dämonen, die von überall und nirgends auftauchen können. Ihr Platz in seinem Kopf ist immer derselbe geblieben. Vaudel war Paranoiker, und sei es nur in dieser Gewissheit seiner Macht und seiner immer größer werdenden Isolation. Aber alles in seinem Krieg war rational und realistisch, und die, die er bekämpfte, hatten für ihn ganz bestimmt auch Namen und sogar Gesichter.«
»Ein verborgener Krieg also, und die Feinde sind Chimären. Dennoch bricht eines Abends die Wirklichkeit in sein Theater ein, und er wird ermordet.«
»Ja. Hat er die ›Feinde‹ am Ende tatsächlich bedroht? Hat er mit ihnen gesprochen, sie angegriffen? Sie kennen doch die landläufige Redewendung, nicht wahr: Der Paranoiker löst am Ende den Hass aus, den er geargwöhnt hatte. Seine Erfindung erfüllt sich mit Leben.«
Josselin bot eine neue Runde Birnenschnaps an, doch Adamsberg lehnte ab. Der Arzt bewegte sich leichten Schritts zum Schrank und stellte die Flasche gewissenhaft zurück.
»Es gibt normalerweise keinen Grund, dass wir uns wiedersehen, Kommissar, denn meine Kenntnis von Vaudel erschöpft sich hiermit. Es wäre wohl sehr viel verlangt, nicht wahr, wenn ich Sie bitten würde, einmal wiederzukommen?«
»Damit Sie in meinen Schädel reingucken können?«
»Ja, sicher. Es sei denn, wir finden ein weniger einschüchterndes Motiv. Keine Rückenschmerzen? Steife Gelenke? Irgendeine Beklommenheit? Verdauungsprobleme? Kälte- oder Hitzeanwandlungen? Eine Neuralgie? Ein Stirnhöhlenkatarrh?
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