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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ließ er sich nicht anmerken, was er von ihrem sonderbaren Benehmen hielt.
    Dafür war es ihr umso peinlicher. Sie rappelte sich vom Boden hoch und klopfte beflissen den Sand aus ihren Bluejeans. Dabei entdeckte sie ihren Rucksack und die ordentlich verdeckelte Pappkiste neben dem Jungen auf der Bank. Sophia war erleichtert. Den Verlust des Computers hätte sie noch verschmerzen könnten, aber Das merkwürdigste Buch der Welt war unersetzbar.
    Wieder hallte das Kreischen über den Friedhof.
    »Was war das?«, entfuhr es Theo. Seine Stimme zitterte leicht.
    Sofort fühlte Sophia sich besser. Dieser unerschrockene Bursche hatte also auch Schwächen. Wie beruhigend! Sie lächelte wie eine große Schwester, deren Brüderchen sich vor Blitz und Donner fürchtete. »Alles in Ordnung, Theo. Das war nur eine Straßenbahn.«
    »Eine Straßenbahn?«, wiederholte er langsam, so als müsse er genau auf den Klang der eigenen Stimme achten.
    Sie hatte nicht bedacht, dass er die Errungenschaften der modernen Technik nur aus den Erzählungen ihres Großvaters oder den Fenstern im Labyrinth der Zeit kennen konnte. Abgesehen von den beängstigenden Geschöpfen in Mekanis dürfte das Fortschrittlichste, mit dem er je richtig in Kontakt gekommen war, das Nürnberger Ei von Meister Hans Gruber und dessen zwei Uhrmacherkollegen gewesen sein. Sophia machte eine vage Handbewegung in Richtung Oranienburger Straße und Hackescher Markt: »Eine Straßenbahn ist so eine Art eiserner Riesenwurm.«
    »Ist er gefährlich?«
    »Nur wenn man keinen Fahrschein hat.«
    Während sie sich noch über Theos Ratlosigkeit amüsierte, wurde sein Blick plötzlich starr. Er war nach Osten gewandt. Hatte er die bronzene Figurengruppe am Eingang entdeckt? Sophia war beim Betreten des Friedhofs nicht ohne eine gewisse Beklemmung daran vorbeigelaufen. Lauter ausgemergelte Gestalten. Sie stellten, so der Name der Plastik von Will Lammert, »Jüdische Opfer des Faschismus« dar.
    Theo langte nach links, angelte sich den Rucksack, streckte ihn Sophia hin und raunte: »Dreh dich nicht um und komm!«
    Die sicherste Methode, jemanden auf etwas Bestimmtes aufmerksam zu machen, ist die Empfehlung, nicht ausgerechnet dorthin zu sehen. Sophia wusste das und wandte sich trotzdem zum Friedhofseingang um. Ihr Blick traf sich mit dem eines Mannes mit Blindenstock und dunkler Brille.
    Der Unaussprechliche blieb stehen. Es hatte tatsächlich den Anschein, als könnte er das Mädchen und den Jungen auf der Parkbank sehen. Sophia erschauderte. Die Angst, die sie eben noch besiegt zu haben glaubte, kehrte schlagartig zurück. Gebannt wie das sprichwörtliche Kaninchen die Schlange, starrte sie den Alten in Mantel und Hut an. Wie hatte er sie so schnell aufspüren können?
    Nach kurzem Innehalten schwenkte der Stundenwächter seinen fühlerartigen weißen Stock und stieß einen sonderbaren Pfiff aus, der mehr nach dem schrillen Zirpen einer Singzikade klang …
    »Jetzt komm schon, Sophia!«, drängte Theo.
    Sie deutete aufgeregt zu dem Blinden. »Das ist der Mann mit den strahlenden Augen, von dem ich dir erzählt habe.« Endlich wandte sie sich Theo zu. Überrascht stellte sie fest, dass er während ihres Zögerns den Inhalt des Pappkartons in ihre Tasche gestopft hatte und gerade wie selbstverständlich den Zipper zuzog. Hatte er schon vorher darin herumgeschnüffelt, als sie besinnungslos gewesen war? Woher sonst kannte er sich so gut mit Reißverschlüssen aus?
    Er warf sich den Rucksack über die Schulter und nickte grimmig. »Das ist Oros, der Herrscher der Zeit. Ich würde ihn in jeder Verkleidung wiedererkennen. Wahrscheinlich hat er den Mantel gestohlen wie seinen Körper. Früher haben ein starker Wille und ein begnadeter Geist diesen hinfälligen Leib beherrscht, bis Oros ihn versklavt hat. Und wenn wir uns nicht beeilen, sind wir seine nächsten Opfer. Komm!«
    »Warte!«, rief sie. Ihr war nicht entgangen, wie Theo um seine Fassung rang. Sie hätte ihn gerne gefragt, um wen es sich bei dem unterjochten Genie handelte, doch erst einmal mussten sie sich in Sicherheit bringen. Oros kam nämlich nicht allein. Von allen Seiten näherten sich jetzt Leute mit gläsernem Blick. Sie hatten wohl hinter den Bäumen auf seinen Befehl gewartet. Ihre Bewegungen waren hölzern, so steif wie bei Marionetten.
    Oder Robotern.
    Alles, was er anfasst, ob Apparate oder Menschen, ist ihm zu Willen. Männer, Frauen und Kinder werden zu seelenlosen Maschinen, sobald er sie nur mit den Händen

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